Jedes Mal, wenn es an der Tür klingelt, bekommt sie Angstzustände. „Jetzt ist es so weit! Das ist der Haftbefehl“, denkt Ascensión López dann. Sie sitzt in ihrem Haus im südspanischen Almería am Wohnzimmertisch und erzählt von einem langen Kampf, von Ängsten und Verzweiflung. Vor ihr liegen Ordner mit Dokumenten, die sie in den vergangenen Jahren mühsam zusammengetragen hat. „Ich bin mir mittlerweile sicher, dass ich ein gestohlenes Baby bin“, sagt die 53-Jährige.
Ascensión López hat Angst vor dem Gefängnis, obwohl sie kein Verbrechen begangen hat. Was sie getan hat: Sie forschte in ihrer Vergangenheit und machte öffentlich, was sie herausgefunden hatte. Sie ist überzeugt, dass sie 1964 von ihren Adoptiveltern in einem Krankenhaus in Sevilla gekauft wurde. Wer ihre eigentliche Mutter war, ob sie ihr weggenommen wurde oder ob diese in die Adoption eingewilligt hatte, López weiß es nicht. Doch sie wird den Verdacht nicht los, eines der Opfer eines perfiden Menschenhandels zu sein, dessen Folgen Spanien bis heute umtreiben. „Bebés robados“ – „gestohlene Babys“ werden die Betroffenen genannt. Ihren Müttern, meist aus einfachen Verhältnissen, oft sehr jung und alleinstehend, wurde erklärt, ihre Kinder seien bei der Geburt verstorben. Dann wurden die Babys an reiche Familien verkauft. Das ging so seit Beginn der Franco-Diktatur und bis Anfang der 1990er Jahre.
Ende der nuller Jahre begann der spanische Star-Richter Baltasar Garzón in ersten Fällen zu ermitteln. Er ging davon aus, dass allein im Spanischen Bürgerkrieg und dem ersten Jahrzehnt der Franco-Diktatur rund 30.000 Kinder die Familie wechselten. Oft stammten die Kinder von inhaftierten Frauen der republikanischen Kämpfer, den Verlierern des Bürgerkriegs. Kirche und Diktatur übergaben sie regimetreuen Familien, um so eine nationalkatholische Erziehung sicherzustellen.
Was aus einer politischen Motivation heraus begann, ging auch nach dem Tod Francos 1975 weiter. Mafiöse Verbindungen aus Ärzten und Geistlichen machten aus dem Verkauf von Neugeborenen ein lukratives Geschäft. Verstrickt in die Machenschaften waren oft auch Nonnen, die vorgaben, „gefallenen Frauen“ helfen zu wollen. Insgesamt gehen Betroffenenorganisationen von bis zu 300.000 Kindern aus.
Ascensión López wirkt älter, als sie ist. 2013 berichtete sie im Fernsehen von ihrem Fall – und von ihrem Verdacht. Sie war nicht die Einzige, die mit ihrem furchtbaren Verdacht an die Öffentlichkeit ging. Das Fernsehen stürzte sich auf die Fälle; manchem „gestohlenen Baby“ und so mancher Mutter, die ihr Kind suchte, half dies: Sie fanden sich wieder. López hoffte, dass auch sie fündig werden könnte.
Bei ihrem TV-Auftritt erwähnte Lopez auch den Namen Dolores Baena. Die Nonne vom Orden der „Hijas de la Caridad“ ist die Nichte ihres Adoptivvaters und arbeitete damals im Heim für Neugeborene des
Krankenhauses in Sevilla. Baena soll, davon ist Lopez überzeugt, die Adoption eingefädelt haben.
Nach der Ausstrahlung zeigte die Nonne López wegen Verleumdung an. Es sei alles mit rechten Dingen zugegangen, behauptete sie und gewann den Prozess 2015. López wurde zu 40.000 Euro Entschädigung, 3.000 Euro Strafe und der Übernahme der Gerichtskosten verurteilt. Und wer nicht zahlt, muss in Haft. Im Falle von Ascensión López sind es fünf Monate: „Ich habe das Geld nicht. Ich bin seit Jahren arbeitsunfähig“, sagt sie. Ein Antrag auf Begnadigung, unterschrieben von 90.000 Unterstützern, wurde vom konservativen Justizminister im vergangenen November abgewiesen.
Neben López, am Tisch im Wohnzimmer, lehnt ihr ständiger Begleiter, eine Krücke. Es geht ihr gesundheitlich nicht gut. Die Liste der Krankheiten, die sie plagen, ist lang. Zucker, Schilddrüse, chronischer Mangel an roten Blutkörperchen. Sechzehn Tabletten nimmt sie täglich.
Das Haus, in dem sie wohnt, ist ein einfacher Flachbau außerhalb der Stadt. Es liegt inmitten eines Meers aus Folienzelten, in denen hier in Südspanien das Gemüse für halb Europa angepflanzt wird. Das Land, das López einst bestellte, gehört ihr schon lange nicht mehr. Eine Scheidung nach einer Ehe voller häuslicher Gewalt, ihre Krankheiten und die fehlende Sozialhilfe haben sie in die Schulden getrieben. „Selbst mein Haus, das ich von meiner Adoptivmutter erbte, ist mit einer Hypothek belegt.“ Zwei ihrer drei Kinder leben noch bei ihr. Beide studieren, trotz ständiger Geldnot hat López sie dazu ermutigt.
Zu den Dokumenten, die López auf dem Wohnzimmertisch vor sich hat, zählen Auszüge aus dem Einwohnerregister, Unterlagen aus der Klinik, ein Teil der Adoptionsakten. Auf einigen Dokumenten, so auf einem Papier aus der Adoptionsakte, taucht der Name der Nonne auf. Warum hat sie diesen in der Fernsehdiskussion im Oktober 2013 öffentlich gemacht? „Ich habe den Namen der Klinik und den der Nonne genannt, in der Hoffnung, je mehr ich preisgebe, um so leichter ist es für meine richtige Mutter, mich zu
erkennen“, sagt sie.
Ascensión López erinnert sich noch sehr gut an jenen Tag, als sie an ihrer Herkunft zu zweifeln begann. Sie war acht Jahre alt. „Ich kam von der Schule nach Hause und mein Vater war an einem Hirnschlag gestorben“, erinnert sie sich. Das Mädchen schloss sich weinend in ihr Zimmer ein. „Plötzlich ging die Tür auf. Eine mehr als 20 Jahre ältere Cousine stand vor mir und schleuderte mir ins Gesicht: Was heulst du? Der Mann hat doch gar nichts mit dir zu tun.“
Nichts mit ihr zu tun? Die Achtjährige war geschockt und begann zu fragen, bekam aber nur widersprüchliche Antworten, bis ihre Mutter schließlich die Adoption gestand. Sie hätten viel, viel Geld bezahlt, an die Kirche und an andere Stellen. 250.000 Peseten seien es gewesen; zu einer Zeit als ein Facharbeiter 5.000 bis 6.000 Peseten im Monat verdiente.
Lopez’ Adoptivmutter erzählte ihr, dass ebenjene Nonne damals bei ihnen zu Hause angerufen habe: „Richte deinem Mann aus, dass ihr nach Sevilla kommen sollt. Hier ist eine, die fällig ist“, soll die Nonne gesagt haben. „Viel mehr hat mir meine Mutter nie erzählt“, sagt López. Sie vermutet, dass sie auch gar nicht mehr wusste. „Mein Adoptivvater war sehr katholisch. Er fällte alle Entscheidungen allein.“
Eine Woche haben ihre Adoptiveltern – so konnte López es rekonstruieren – in Sevilla gewartet und sie dann mitgenommen. Ihre Adoptiveltern waren zu dieser Zeit 54 und 60 Jahre alt. „Weder damals noch heute lässt das Gesetz ein Paar in diesem Alter ein Baby adoptieren“, wundert sich López.
Der 7. Mai 1964, das ist ihr Geburtsdatum im Registerauszug, dessen Kopie López aufbewahrt. Eine andere Bescheinigung widerspricht dem allerdings. Demnach wurde López bereits am 5. Mai getauft. „Ich weiß also nicht einmal, wann mein Geburtstag ist“, sagt sie und schaut dabei auf die Dokumente, die sie immer wieder hin und her sortiert.
Heute, 53 Jahre später, ist selbst ihr Name ein Rätsel. In einigen Papieren heißt sie María Dolores – volkstümlich „Loli“ – wie sie auch von ihren Eltern gerufen wurde. In anderen Consuelo und schließlich in dem Dokument aus dem Zivilregister, das ihrem Ausweis und Pass zugrunde liegt, Ascensión.
„Die wichtigsten Dokumente kann ich zeigen, aber sie dürfen nicht fotografiert werden, denn ich brauche sie vor Gericht und will nicht, dass die Nonne aus der Presse erfährt, was ich bereits alles weiß“, sagt López und packt einen Teil der Papiere schnell wieder in den Ordner.
Egal, wen aus der Familie sie in all den Jahren nach der ganzen Wahrheit fragte, sie wurde immer wieder auf die Nonne verwiesen. Die kenne die ganze Geschichte, wurde ihr erklärt. Eigentlich ist die Nonne Dolores Baena als Nichte ihres Adoptivvaters eine Cousine von López. „Ich weigere mich mittlerweile aber, sie so zu nennen“, sagt López mit bitterem Ton. Zu oft kreuzten sich ihre Wege. Und der Verdacht, dass die Nonne tatsächlich mehr wusste, als sie zugab, wuchs von Mal zu Mal.
So auch, als López 16 wurde. Wie alle in diesem Alter beantragte sie damals ihren ersten Personalausweis. Nur: unter dem Namen María Dolores war im Register niemand vermerkt. „Ich erzählte dies der Nonne“, erinnert sich López. „Versuch es mal mit Ascensión“, empfahl ihr diese.
Es klappte. Die Heranwachsende bekam ihren Ausweis und hatte erstmals schwarz auf weiß, dass irgendetwas nicht stimmte.
Sie fragte Schwester Dolores immer und immer wieder nach Details ihrer Herkunft, nach ihrer leiblichen Mutter – und bekam immer und immer wieder ausweichende Antworten. „Einmal nahm sie mich mit ins Provinzkrankenhaus von Almería, wo sie mittlerweile arbeitete. Von einem Balkon aus waren die Fenster des Waisenhauses und die Kinder, die dort lebten, zu sehen. „Frag nicht weiter. Du hättest so enden können“, empfahl ihr die Nonne.
„Mein Leben zerfällt in zwei Teile“, berichtet López. Bis zum überraschenden Tod ihres Vaters war die kleine Loli behütet. Und sie war glücklich. Das Ehepaar López lebte mit ihr und ihrem sechs Jahre älteren, ebenfalls adoptierten Bruder, im Zentrum Almerías. Der Bruder möchte im Zusammenhang mit dem Streit nichts sagen, was gedruckt wird – und das, obwohl er der Einzige der Familie ist, der bis heute zu seiner Adoptivschwester steht.
Die Familie lebte damals in einem der ersten modernen Wohnblocks, der in Almería nach dem Krieg gebaut worden war. Nur angesehene und vor allem regimetreue Bürger wohnten hier, direkt gegenüber dem Zentralmarkt. López kommt nur selten hierher. Heute ist so ein Tag: Sie möchte zeigen, wo sie aufgewachsen ist. Es bewegt sie sichtlich. Immer wieder kämpft sie gegen die Tränen an.
Es wird kein langer Spaziergang. Denn das Leben der kleinen „Loli“ spielte sich in wenigen Straßen ab. Ein paar Meter weiter ging sie in die katholische Grundschule. Ein Stück die Straße hinauf, in einem Gebäude, das heute eine Filiale der Sparkasse beherbergt, war einst das Theater Apollo. „Hier gingen wir jeden Sonntag ins Kino“, erinnert sich López. Zuvor hatten sie sonntags immer die Messe in der Kirche San Pedro besucht, in der sie Jahre später heiraten sollte. Nach dem Gottesdienst spielte sie auf dem Platz davor. „Meine Mutter brachte immer eine Decke mit, damit ich das Sonntagskleid nicht beschmutze“, sagt López.
Unter der Woche besuchte die kleine Loli mit ihrem Vater regelmäßig die Cafetería Colón. „Hier trafen sich die Großkopfigen der Falange, zu denen auch mein Vater gehörte“, erzählt López. Die Falange war die Einheitspartei der Franco-Diktatur. Während die Männer über alles Mögliche debattierten, saßen die Kinder still dabei.
Ihr Vater war ein wichtiger Mann bei den Faschisten. „Er ordnete im Krieg und den ersten Jahren der Diktatur standrechtliche Erschießungen an“, sagt López und fügt dann schnell hinzu: „Aber er war dennoch ein sehr guter Vater.“
Sie kennt die Gewalt und das Leid, das die Franco-Anhänger über viele Menschen gebracht haben. Als Jugendliche wuchs in ihr der Widerstand gegen alles Autoritäre. „Ich bin die einzige ‚Rote‘ in der ganzen Familie“, sagt sie – und doch lässt sie auf ihren Adoptivvater als Vater nichts kommen. „Ich habe nur gute Erinnerungen. Wir gingen zusammen angeln, segeln, an den Strand“, erinnert sie sich. Und ihr Adoptivvater brachte ihr das Schwimmen bei.
Die guten Beziehungen zu den örtlichen Eliten der Diktatur nutzte ihr Adoptivvater aber auch als Bauunternehmer. Während des ersten, noch zaghaften Tourismusbooms an der Küste rund um Almería verdiente er viel Geld. Die Erinnerungen, der Spaziergang durch die Straßen ihrer Kindheit fallen López nicht leicht. Sie sieht aus, als kämen ihr jeden Augenblick die Tränen. „Das behütete Leben fand mit dem Tod des Vaters ein abruptes Ende“, setzt sie erneut an. Es fehlte die schützende Hand des Patriarchen. Ab jenem Augenblick, als die Cousine ihr ins Gesicht schleuderte, dass sie „mit diesem Mann nichts zu tun hat“, wurde sie oft „la recogida“ (die Aufgenommene), „la cunera“ (das Findelkind) oder gar „la intrusa“ (der Eindringling) genannt.
Die Mutter musste bald schon die schöne Wohnung in der Rambla verkaufen. Sie zog mit ihren beiden Kindern in das Haus draußen auf den Feldern, das López bis heute bewohnt. Das Vermögen wurde Monat für Monat weniger. Was López schließlich noch erbte, ist nach ihrer Ehe, Scheidung und den Krankheiten auch weg. „Ich habe sehr gut gelebt und sehr schlecht“, sagt sie mit leiser Stimme.
Nach ihrer Scheidung 2005 machte sie sich mit großem Eifer an die Spurensuche. Ermutigt durch erste Schlagzeilen über „gestohlene Babys“ ging auch sie an die Öffentlichkeit. 2011 gründete sie in Almería eine Vereinigung der Betroffenen, der sie bis heute vorsteht. „Am Abend bevor ich die Vereinigung registrierte, bat ich die Nonne zu mir“, berichtet López. Sie bot ihr an, darauf zu verzichten, falls sie ihr endlich die Wahrheit erzählen würde. „Such, du wirst deine Mutter nie finden“, lautete die Antwort der Nonne.
López brachte ihre Zweifel schließlich 2012 zur Anzeige. Die Polizei in Sevilla stellte die Ermittlungen nach wenigen Monaten ein. Anderen Betroffenen erging es nicht viel besser. Über 2.000 Fälle wurden zur Anzeige gebracht, zum Teil mit sehr detaillierten Beweisen gegen Ärzte und Ordensschwestern. Urteile wurden bis heute keine gefällt. Die Justiz verschleppt die Verfahren. Eine von der Regierung versprochene DNA-Datenbank funktioniert bis heute nicht wirklich, beklagen sich die Opfervereinigungen. Selbst EU-Institutionen beschwerten sich immer wieder über die Untätigkeit Madrids.
Nur wenige der geraubten Kinder konnten ihre leiblichen Eltern finden. Die große Mehrheit der Betroffenen muss weiter mit der Ungewissheit leben. López ist sich sicher, dass Schwester Dolores einem Netzwerk angehörte. Anders könne sie sich die harte Haltung der Nichte ihres Adoptivvaters nicht erklären. Eine Begnadigung im Verleumdungsverfahren wäre möglich gewesen, wenn die Nonne ihr vor Gericht verziehen hätte.
Doch Schwester Dolores besteht auf der Vollstreckung der Strafe und der Entschädigung. „Ich frage mich immer wieder: Wen schützt sie?“, sagt López.
Schwester Dolores ist leicht zu finden. Sie lebt in einer jener Straßen, in denen sich die Kindheit von López abgespielt hat. Jeden Morgen verlässt sie zur selben Stunde die katholische Schule Milagro, grüßt freundlich die Straßenkehrer und Passanten, verschwindet schließlich in der zur Schule gehörenden Kirche, wo sie andächtig der Messe beiwohnt. Auf die Begnadigung angesprochen, antwortet sie knapp: „Fragen Sie meine Anwältin.“ Diese verweist am Telefon auf das Urteil. „Wir werden zu dem Spektakel, das die da abzieht, nichts beitragen“, beendet die Anwältin das Gespräch.
Zurück im Wohnzimmer, räumt López die Dokumente weg. Auf dem Tisch liegen nur noch ein paar Fotos, die sie mit Vater und Mutter zeigen. Sie weiß, dass ihr Fall sehr schwierig ist. Immerhin hat sie seit dem Urteil die Unterstützung der Vereinigung gestohlener Babys in der andalusischen Hauptstadt Sevilla und damit erstmals gute Anwälte. Bisher kümmerte sich ein Pflichtverteidiger um sie und der habe, so die neuen Anwälte, alles falsch gemacht, was man nur falsch machen kann. Ihre jetzigen Rechtsbeistände suchen nach weiteren Unterlagen, um den Fall erneut aufzurollen und so die Haft zu vermeiden. Ob das noch rechtzeitig gelingt, ist alles andere als sicher. „Doch selbst wenn ich für fünf Monate ins Gefängnis muss – sobald ich rauskomme, mache ich weiter“, sagt López.
Manchmal befürchtet sie aber auch, sie könnte über die Suche und die ganzen Grübeleien „verrückt werden“. Dann zieht es sie an jenen Ort, an dem sie sich ihrem verstorbenen Adoptivvater nah fühlt. Sie fährt hinaus ans Meer, an einen Strand im Naturschutzgebiet Cabo de Gata, wo die beiden einst lange Sommernachmittage verbrachten. „Doch in letzter Zeit spüre ich seine Nähe nicht mehr“, sagt sie mit traurigem Gesicht. Denn sie quält eine Frage: „Hätte er mir irgendwann die Wahrheit gesagt?“