Tunesien möchte seine Wunden schließen. Eine im Sommer von der Verfassungsgebenden Versammlung ins Leben gerufene 15-köpfige Instanz für Wahrheit und Würde (IVD) nahm nach mehreren Monaten Vorbereitung am 1. Dezember die Arbeit auf. Die Wahrheitskommission wird sich der rund 50.000 Opfer von Menschenrechtsverletzungen im Zeitraum von 1955 – einem Jahr vor der Unabhängigkeit des Landes von Frankreich – bis 2013 annehmen. 600 Mitarbeiter in 24 Regionalbüros werden Anhörungen durchführen und Dossiers erstellen. Der IVD steht mit der 64-jährigen Journalistin Sihem Bensedrine eine der bekanntesten Menschenrechtlerinnen des nordafrikanischen Landes vor, in dem am 14. Januar 2011 mit dem Sturz des langjährigen Diktators Zine el-Abidine Ben Ali, der arabische Frühling eingeleitet wurde. Die Kommission hat vier Jahre plus einer eventuelle Verlängerung um ein weiteres Jahr um diese Arbeit zu bewältigen.
„Ich wünsche der Kommission viel Erfolg“, erklärt Najet Ichéwi. Die 1969 geborene Frau aus der Hauptstadt Tunis gehört zu den Opfern der dunkelsten Jahre der Repression. Sie war Ende der 1980er Jahre Pressesprecherin der Studentengewerkschaft UGTE. 1994 wurde sie wegen ihrer Aktivität zu einem Jahr Haft verurteilt. Ichéwi erinnert sich: „Auf dem Kommissariat wurde ich zwei Wochen lang verhört.“ Die junge Frau wurde geschlagen und musste sich vor rund 50 Polizisten ausziehen. Dann kam, woran sich die meisten Gefangenen aus jener Zeit mit Grauen erinnern, das „poulet rôti“ – zu deutsch „Brathänchen“. Ichéwi wurden in hockender Stellung an Händen und Füßen gefesselt und an einer Stange kopfüber aufgehängt. Stundenlang wurde sie in dieser Stellung gehalten. Auch später im Gefängnis wurde die Frau immer wieder misshandelt. Ihre Stimme stockt, wenn sie davon berichtet.
Auch nach Ende der Haft war das Leiden nicht vorbei. „Ich durfte mich nicht frei bewegen, musste mich ständig bei den Behörden melden“, berichtet Ichéwi. Neun Jahre dauerte es, bis sie ihren Uniabschluss machen konnte. „Die Behörden verhinderten dies immer wieder“, erinnert sich Ichéwi. Als sie 1995 heiratete, wurde sie zusammen mit ihrem Gemahlen, einem Tunesier aus Frankreich, erneut festgenommen. „Wir hatten nicht um Erlaubnis nachgefragt“, erklärt sie warum. An der ständigen Überwachung ging ihre Beziehung, aus der sie zwei Kinder hat, letztendlich kaputt. Erst seit der Amnestie, unmittelbar nach dem Sturz Ben Alis, darf sie arbeiten. Ichéwi unterrichtet an einem Gymnasium Geschichte und Erdkunde.
Nicht allen Gefangenen aus jener Zeit gelang es wieder Fuss zu fassen. „Ich wurde mitten aus dem Studium gerissen und habe bis heute keinerlei Ausbildung“, berichtet Hamrouni Saber, der arbeitslos ist. Er war gerade einmal 20 Jahre alt, als er 1191 bei einer großen Razzia gegen die Islamisten der heute zweitstärksten Partei Tunesien, Ennahda, verhaftet und zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Saber wurde 2006 freigelassen und 2011, wie all die anderen amnestiert. „Sie haben uns zwar endlich die Arbeitserlaubnis gegeben, aber keiner kümmert sich darum, dass wir eine Ausbildung oder einen Job erhalten“, erklärt Saber, warum es seiner Ansicht nach mit der Amnestie alleine nicht getan ist.
„Alleine hier betreuen wir 1.800 ehemalige politische Gefangener“, berichtet die Vorsitzende der Internationalen Vereinigung zur Unterstützung Politischer Gefangener (AISPP), Saida Akrimi. Nach der Machtübernahme Ben Alis 1987 wurden 35.000 Islamisten aus dem Umfeld Ennahdas sowie rund 1.000 Linke und Gewerkschafter zu Haftstrafen verurteilt. „Nach den Anschlägen auf das World Trade Center in New York machte Ben Ali Jagd auf Salafisten“, berichtet Akrimi. Rund 3.500 wurden verhaftet und zu langjährigen Strafen verurteilt. Ben Ali sah in jedem eine Gefahr, der nach Ansicht der politischen Polizei zu orthodox gläubig war. Internetcafés wurden überwacht. Wer entsprechende Seiten anklickte, galt automatisch als Terrorist. Es handelte sich meist um Studenten. „Der Staat muss an all diesen Opfern Wiedergutmachung leisten“, fordert Akrimi. Dazu gehöre auch, dass die Täter verfolgt werden.
Das wird nicht leicht. Denn die Wahrheitskommission ist, obwohl sie bisher noch nicht einmal die eigentliche Untersuchungsarbeit aufgenommen hat, im Kreuzfeuer der Kritik. Der 88 Vorsitzende der Nidaa Tounes und mögliche Staatspräsident Béji Caïd Essebsi beschimpfte nach dem Sieg seiner Partei bei den Parlamentswahlen vergangenen Oktober die IVD als „Rachemaschinerie“ und kündigte an, die Kommission auflösen zu wollen. Er selbst ist 88 Jahre alt und war Innen- und Aussenminister unter dem ersten Präsidenten des unabhängigen Tunesien, Habib Bourguiba. Unter Ben Ali stand er eine Zeit lang dem völlig machtlosen Parlament vor und gehörte der Einheitspartei RCD an.
„Essebsi hat kein Interesse an der Aufarbeitung der Vergangenheit“, erklärt die IVD-Vorsitzende Bensedrine. „Er kann uns allerdings nicht so einfach auflösen, dazu bräuchte er eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament. Die wird er nicht bekommen“, ist sich Bensedrine sicher. Sie will die vier Jahre nutzen und vor nichts und niemandem Halt machen: „Auch nicht vor einem Staatspräsidenten“, wenn dies nötig sei.