© 2010 Reiner Wandler

Massengrab in der Fußgängerzone

„Was ist das?“ fragt die 52-Jährige, die sich als „Karin aus Graz“ vorstellt. Entsetzt schaut sie dabei auf ein riesiges Foto, das auf dem Boden des zentralen Platzes Puerta de Sol in Madrid liegt. Es zeigt in Originalgröße eine Ausgrabung von 29 Skeletten, gekrümmt, ineinander verschlungen. Bei einigen ist deutlich eine Einschussstelle am Kopf zu sehen. „Das ist ein Massengrab, das wir in der Nordspanien gefunden haben“, bekommt sie von Umstehenden zur Antwort.


Geduldig wird ihr die traurige Geschichte Spaniens erklärt. Mindestens 112.000 Menschen wurden im Bürgerkrieg (1936-1939) und in den Jahren danach von den siegreichen, faschistischen Truppen von General Francisco Franco ermordet und dann irgendwo verscharrt. Sie alle hatten die demokratische Ordnung Spaniens verteidigt. Franco regierte das Land bis zu seinem Tode 1975 mit eiserner Hand. Gerechtigkeit haben die Opfern bis heute nicht erfahren.

„Unglaublich“, stammelt Karin, als sie dann auch noch erzählt bekommt, dass der international durch die Verfolgung des chilenischen Diktators Augusto Pinochet bekannte Richter Baltasar Garzón, suspendiert und angeklagt wurde, weil er genau diese Verbrechen untersuchen wollte. „Das ist doch keine Vergangenheitsbewältigung“ beschließt Karin, die zwei Tage Spaniens Hauptstadt besucht, bevor sie im Einkaufsrummel verschwindet.

„Seit Juni treffen wir uns jeden Donnerstag“, erklärt Emilio Silva, einer der Sprecher der Plattform gegen die Straffreiheit. Jede Woche wieder treffen sich zwischen 100 und 200 Angehörige von Opfern der Franco-Diktatur um Gerechtigkeit einzufordern. Als Vorbild für die Aktion in Madrid dienen die Demonstrationen der Mütter von Verschwundenen in Argentinien. Silva war vor über zehn Jahren der Erste, der sich traute nach dem Massengrab zu suchen, in dem sein Großvater verscharrt lag. Immer mehr Angehörigen von Opfern der Franco-Diktatur folgten seinem Beispiel. 2006 kam es zur Klage, deren Annahme Richter Garzón zum Verhängnis werden sollte.

Das Foto auf dem Boden reißt die Passanten aus dem allabendlichen Kaufrausch. „Es wird Zeit, dass die Verantwortlichen vor Gericht kommen. Einige der Täter leben noch immer“, erklärt José aus Barcelona. Der 65-Jährige, der wie die meisten zwar Rede und Antwort stehen, aber keinen Nachnamen nennt, ist in Madrid auf Montage. Er selbst hat in den Nachkriegsjahren den Großvater verloren. Diesem wurde von den Francos Truppen alles genommen. Er erkrankte und starb ohne ärztliche Hilfe.

„Das ist Geschichte. Man sollte das ruhen lassen“, meint dagegen Manolo. „Das entzweit nur“, ist sich der 60-Jährige Madrilene sicher. Seine Familie war im Bürgerkrieg gespalten. Einige mussten für ihre Treue zur Republik ins Gefängnis. Andere gehörten zur Seite Francos. „Denen ging es so richtig gut“, sagt Manolo und geht weiter.

„Gräueltaten wurden von beiden Seiten verübt“, wirft Angel (56) in die Runde. Er verweist darauf, dass die Radikalsten unter den Verteidiger der Republik, viele Nonnen und Priester ermordet haben. „Das stimmt wohl, aber im Unterschied zu unseren Opfern, sind die namentlich bekannt, sie wurden in der Diktatur gesucht und ordentlich bestattet“, wirft ein anderer ein.

Ein Jugendlicher schaut kurz interessiert: „Geschichten“, winkt er dann ab und nimmt seine Freundin an der Hand. Sie verschwinden in Richtung Disco am Ende der Straße.

Was bisher geschah: