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155 – eine Zahl macht Angst

Betriebsversammlung bei TV3 am Montag/ Foto: Betriebsrat TV3

„Wir stehen vor einer Besatzung“, sagt Maite Arqué. Wenn die 74-jährige Aktivistin und ehemalige Politikerin spricht, ist nur noch wenig von dem Elan zu spüren, mit dem sie am 1. Oktober im Badalona zur vom Verfassungsgericht verbotenen Abstimmung über die Unabhängigkeit Kataloniens ging. Denn spätestens am Samstag wird Spaniens konservative Regierung unter Mariano Rajoy mit dem Verfassungsartikel 155 die Autonomie Kataloniens außer Kraft setzen – und Arqué befürchtet Schlimmstes: „Sie werden grundlegene Funktionen übernehmen, ohne irgendwelche demokratischen Regeln.“

Am Wochenende hatte Ministerpräsident Rajoy die Zwangsmaßnahmen bekanntgegeben, zu denen die Absetzung der katalanischen Regionalregierung sowie die Ausrufung von Neuwahlen innerhalb von sechs Monaten gehören. Die Autonomiepolizei Mossos d’Esquadra, die Finanzen der Region, aber auch Bildung und das öffentliche Fernsehen und den Rundfunk sollen unter der Aufsicht Madrids stehen.

„Ich bin völlig ratlos. Ich habe keine Idee, was zu tun ist“, gesteht Arqué, hinter der ein langes politisches Leben liegt. Sie gehörte dem „Nationalen Pakt für ein Referendum“, einem Bündnis aus Befürwortern und Gegnern der Unabhängigkeit, die nur der Wunsch nach einer freien Abstimmung einte.

Arqué gehörte lange der Sozialistischen Partei Kataloniens (PSC) an, die mit der spanischen sozialistischen PSOE zusammenarbeitet. Sie war Bürgermeisterin der drittgrößten Stadt der Region, Badalona, und dann mehrere Jahre Abgeordnete im Senat. Schließlich zog sie sich aus der PSC zurück, als die Sozialisten 2015 die Forderung nach einem Referendum aus dem Programm strichen.

„Der 155 ist genau genommen schon vor dem 1. Oktober in Kraft getreten“, beschreibt sie die Lage und verweist auf die Durchsuchungen katalanischer Regierungsgebäude, Druckereien und Redaktionen sowie auf die Festnahme hoher Regierungsbeamte auf der Suche nach Material für die Volksabstimmung. „Es ist das erste Mal, dass der Artikel 155 zum Einsatz kommt. Sie werden machen, was sie wollen“, beendet Arqué das Gespräch.

Genau das befürchtet auch die Direktorin der Grundschule La Salut in Badalona, Teresa Vivancos. Rajoys Partido Popular (PP) sei „autoritär“. „Die PP hat immer wieder Klagen gegen Katalanisch als Unterrichtssprache eingereicht“, sagt sie. Nur zu gut ist vielen Lehrern und Eltern einer von Rajoys Bildungsminister in Erinnerung, der versicherte alles tun zu wollen, um die Schulen Kataloniens „zu hispanisieren“. „Wenn sie jetzt das Bildungsministerium in Barcelona übernehmen, lässt dies nichts Gutes erwarten“, sagt Vivancos. Viele Rektoren haben in den sozialen Netzwerken bereits mit Name und Schule angekündigt keine Befehle aus Madrid annehmen zu wollen.

„Es ist, als würden wir in die Zeit vor der Verfassung von 1978 zurückfalle“, beschwert sich Ramón Espuny. Der Kulturredakteur bei TV3 ist Vorsitzender der Journalistengewerkschaft in Katalonien und Mitglied beim Betriebsrat des öffentlichen Regionalfernsehens.

Espuny kommt gerade aus einer Betriebsversammlung. „Wir diskutierten über die Folgen des 155 und die Möglichkeiten unsere Arbeit zu verteidigen“, erklärt er. Denn die Chefetage des Senders mit seinen 1900 Mitarbeitern soll, so sieht es die von der Regierungsplan zur Umsetzung des 155 vor, ausgetauscht werden. Das gleiche gilt für Catalunya Radio. „Als öffentlicher Sender unterstehen wir in Katalonien dem Parlament. Wie kann da Madrid einfach eine neue Führung einsetzen?“ fragt Espuny. Was ihn zuversichtlich stimmt: „Auf der Betriebsversammlung ging es nur um unsere berufliche Ethik, um unsere Professionalität. Es gab zu keinem Zeitpunkt Diskussionen zwischen denen, die die Unabhängigkeit Kataloniens befürworten oder ablehnen.“

Die Redaktionsräte der staatlichen spanischen TVE und Radio Nacional haben sich hinter ihre Kollegen bei TV3 gestellt und weissen darauf hin, „wie paradox eine Intervention bei TV3 ist, ‚um die Übertragung wahrheitsgemäßer, objektiver und ausgewogener Informationen unter Achtung des politischen Pluralismus zu gewährleisten‘, wenn bei RTVE eben das nicht erfüllt wird.“ „Es gibt keine Partei, die die öffentlichen Medien so gängelt, wie Rajoys PP“, sagt Espuny. Im Gegensatz zum spanische Staatsfernsehen TVE, wurde TV3 nie international wegen fehlender Ausgewogenheit gerügt. Und während sich TV3 zweistelliger Zuschauerzahlen erfreut, haben die Regionalsender dort wo die PP regiert, fast alle Zuschauer verloren. Zu unerträglich ist die Manipulation.

Den einzigen Ausweg, den Espuny sieht, ist ein „taktischer Rückzug Puigdemonts“, um so die Anwendung des 155 im letzten Augenblick noch zu verhindern. „Wenn nicht, wird alles zu Grunde gehen, was wir in Katalonien mühsam in 40 Jahren Selbstregierung aufgebaut haben.“

„Die Verwalter aus Madrid sind eine durch nichts legitimierte und sie werden über Abertausende Beamte befehligen“, beschwert sich der Bürgermeister von Sabadell, Maties Serracant. Er gehört der antikapitalistischen Kandidatur der Volkseinheit (CUP) und damit dem radikalsten Flügel der Unabhängigkeitsbewegung an. Er fürchtet, dass Madrid versucht sein könnte, Parteien, wie die seine verbieten zu lassen. „Hoffen wir, dass es nicht so weit kommt“, sagt er.

Serracant verweist darauf, dass mehr als 9000 gewählte Vertreter auf allen Ebenen für die Unabhängigkeit sind. 712 der insgesamt 960 katalanischen Gemeinden hielten die verbotene Volksabstimmung ab. Was ihm kurzfristig am meisten Sorgen macht: „Was wird mit den ganzen Investitionen der Generalitat, wie zum Beispiel dem Umbau der Pendlerzuglinien in unserer Stadt?“

„Die Unsicherheit angesichts des Konfliktes beeinträchtigt die wirtschaftliche Entwicklung Kataloniens und damit mittelfristig den Arbeitsmarkt“, weiß der Vorsitzenden der größten Gewerkschaft Spaniens, CCOO, in Katalonien, Javier Pacheco. 1300 Unternehmen haben mittlerweile ihren Hauptsitz aus Katalonien wegverlegt. Der 155 könne diese Tendenz noch verstärken, ist er sich sicher. Mittlerweile überlegt sich – so die Wirtschaftspresse – selbst Volkswagen, die spanische Marke Seat aus Katalonien abzuziehen. Pacheco versucht optimistisch zu bleiben. „Bis Freitag ist immer noch Zeit für Dialog“, sagt er und verweist auf seine Organisation in der 185.000 Unabhängigkeitsbefürworter und -gegner friedlich zusammenarbeiten.

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