© 2012 Reiner Wandler

Totaler Kahlschlag

Es war wie ein letzter Aufschrei bevor der spanische Regierung gestern endgültig die Axt an den Sozialstaat legte. Zehntausende von Menschen säumten Dienstag auf Mittwoch Nacht die Straßen Madrids, um den „Schwarzen Marsch“ – 500 Bergleute, die zu Fuß aus den Kohlebergbauregionen Nordspaniens gekommen waren – einen würdigen Empfang zu bescheren. Die Kumpels, die in Arbeitskluft, Helm und mit Stirnlampe marschierten sind längst zum Symbol der Proteste gegen die Sozialkürzungen im Dienste der Haushaltskonsolidierung geworden. Durch die Streichung der Kohlesubvention, ohne alternative Entwicklungspläne, werden ganze Landkreise jeder Zukunft beraubt. Die Bergleute streiken seit Wochen und liefern sich verzweifelte Straßenschlachten mit der Polizei.
Den konservativen Ministerpräsidenten Mariano Rajoy beeindrucken die Proteste freilich nicht. Nur wenige Stunden nach der Ankunft der Bergleute trat er vors Parlament, um ein Kürzungspaket von 60 Milliarden Euro für die nächsten zwei Jahre sowie eine Erhöhung der Mehrwertsteuern von 18 auf 21 Prozent, die 5 Milliarden Euro zusätzlich einbringen soll, anzukündigen.
Die Maßnahmen sind ein Zugeständnis der spanischen Regierung an Brüssel, um einen 100 Milliarden Euro Kredit für die Bankenrettung und eine Fristverlängerung von einem Jahr im Kampf gegen das Haushaltsdefizit zu erreichen. Dieses muss jetzt nicht 2013 von 8,5 Prozent auf unter 3 Prozent gedrückt werden, sondern es wird erst 2014 so weit sein.
Der Preis ist hoch. Den Beamten, die bereits eine Lohnkürzung von durchschnittlich fünf Prozent hinnehmen mussten, wird für die nächsten drei Jahre das Weihnachtsgeld gestrichen. Im Krankheitsfalle bekommen sie die ersten 20 Tage nur eine teilweise Lohnfortzahlung. Für Arbeitslosen wird die Stütze künftig nur noch 50 statt 60 Prozent betragen. Maßnahmen zur Wiedereingliederung von Langzeitarbeitslosen fallen ebenfalls der Sparwut zum Opfer. Außerdem soll das Pflegegeld „rationalisiert“ werden.
Auch an der Demokratie selbst setzt Rajoy die Schere an. Parteien und Gewerkschaften werden 20 Prozent ihrer Subventionen verlieren. Die Zahl der Gemeinderäte wird um 30 Prozent verringert, Gemeinden sollen zusammengelegt werden. Mehrere konservative Regionalregierungen planen zudem eine Verkleinerung der Regionalparlamente. Diese Maßnahme betrifft besonders die kleinen Parteien, die dank eines völlig unproportionalen Wahlgesetzes sowieso schon gegen die Allmacht des Zweiparteiensystems zu kämpfen haben.
Neben der Mehrwertsteuer wird auch die Tabaksteuer erhöht. Außerdem kann künftig der Kauf einer Erstwohnung nicht mehr steuerlich abgesetzt werden. Dies ist nur ein erster Schritt zum völligen Umbau der Steuersystems. Die Einkommen sollen immer niedriger besteuert werden, während die indirekten Steuern steigen. Bei den neuen Maßnahmen werden die Besserverdienenden einmal mehr verschont. Von einer Anhebung des Spitzensteuersatzes oder der Einführung von Sonderabgaben für große Vermögen, will Rajoy auch weiterhin nicht wissen. Er erließ stattdessen eine Steueramnestie für all diejenigen, die in den vergangene Jahren Millionen am Fiskus vorbei erwirtschaftet haben.
Das neue 65 Milliardenpaket ist das härteste, dass den Spanier bisher zugemutet wird. Im vergangenen Jahr kürzte die Regierung, damals noch unter dem Sozialisten Rodríguez Zapatero, 15 Milliarden Euro im öffentlichen Dienst sowie im Sozialhaushalt. Rajoy strich nach seiner Amtsübernahme im Dezember weitere 27 Milliarden. Außerdem sparen die Regionalregierungen 18 Milliarden Euro im Bildungs- und im Gesundheitswesen.
„Fragen Sie mich nicht, ob mir das gefällt“, erklärte Rajoy unter Buhrufen und Pfiffen der Oppositionsabgeordneten. Draußen führten die Bergleute erneut einen Marsch Zehntausender durch die Innenstadt an. Sie zogen mit der Bitte um Gespräche vor das Industrieministerium und wurden abgewiesen.

Was bisher geschah: