„Es sind nicht 8. Wir sind Tausende“: Enrique Gil (1. von links) und José Alcázar (7. von links).
„Seit den 1970er Jahren, hat es sowas nicht gegeben“, schimpft José Alcázar Blázquez. Der 63-jährige Rentner war bis Ende 2010 Gesamtbetriebsratsvorsitzender bei der spanischen Abteilung des europäischen Flugzeugherstellers Airbus. Jetzt soll er – so will es die Staatsanwaltschaft – für acht Jahre und drei Monate hinter Gitter. Zusammen mit sieben weiteren Betriebsratskollegen und Vertrauensleuten, für die die gleiche Strafe gefordert wird, soll der gelernte Elektriker für gewaltsame Ausschreitungen beim Generalstreik am 29. September 2010 gegen eine Arbeitsmarktreform vor dem Werkstor in Getafe, einem Vorort der spanischen Hauptstadt, verantwortlich sein.
Sieben Betroffene gehören wie Alcázar zur postkommunistischen Gewerkschaft CCOO und einer zur sozialistischen UGT. Die Anschuldigungen sind für Alcázar „völlig absurd“. Er und die anderen Angeklagten hätten vermittelt, seien nicht gewalttätig geworden. „Es ist der größte Verfahren gegen Gewerkschafter seit dem Prozess 1001 vor dem Militärgericht 1973“, sagt Alcázar. Damals unter der Franco-Diktatur stand die gesamte CCOO-Führung vor Gericht. Der junge Alcázar schloss sich in jenen Jahren der verbotenen Gewerkschaft an.
Die Vorfälle, auf die sich das Gericht bezieht, ereigneten sich um sieben Uhr in der Früh. Einige Streikbrecher wollten in den Betrieb. Es kam zu hitzigen Wortgefechten und Rangeleien mit den mehreren Hundert Kollegen, die als Streikposten vor dem Tor standen. Die Polizei wollte den Weg freiprügeln. „Einige Beamte stürmten auf das Werkgelände und befanden sich plötzlich hinter den Streikposten, abgeschnitten von ihrer Einheit“, berichtet Alcázar.
„Einer der Polizisten zog die Pistole und begann wie wild in die Luft zu schießen“, berichten die Augenzeugen jener Nacht. Sieben Hülsen sammelten die Streikenden später ein. Die Lage drohte völlig zu eskalieren. Die Betriebsräte gingen dazwischen. „Ich verlangte ein Gespräch mit dem Chef des Werkschutzes und dem Leiter der Einsatzpolizei“, sagt Alcázar. Mehrere Verletzte mussten vom werksärztlichen Dienst behandelt werden. „Ich habe wirklich an vielen Protesten teilgenommen, aber so etwas, habe ich nie erlebt“, berichtet Alcázar.
Die Überraschung kam am nächsten Tag. Das Gericht lud Alcázar vor. „Mich begleiteten mehrere Kollegen“, erzählt er. Unter ihnen war Enrique Gil. „Wir warteten vor dem Gerichtsgebäude, als wir umstellt und abgeführt wurden“, berichtet der 31-jährige Hubschraubermechaniker und Betriebsrat. Die Polizei nahm ihnen den Personalausweis ab und behandelte sie erkennungsdienstlich. Wie Alcázar wurden auch sie beschuldigt, die Polizei in jener Nacht angegriffen zu haben. In einem nächsten Schritt verlangte die Staatsanwaltschaft die Liste derer, die vom Werksarzt behandelt worden waren. Weitere Kollegen wurden verhaftet. „Einer von ihnen, als er am Wochenende im Supermarkt Einkaufen war“, sagt Alcázar. Schließlich wurden acht Gewerkschafter – alle Betriebsräte und Vertrauensleute – angeklagt.
„Die Anklageschriften sind völlig identisch. Das ist im Strafrecht nicht üblich. Schließlich können nicht alle genau das gleiche gemacht haben“, sagt Alcázar und zieht den 4-seitigen Schriftsatz aus der Tasche. Von Widerstand gegen die Staatsgewalt und von Körperverletzung an exakt den gleichen Beamten ist da jeweils die Rede. Und was am meisten schmerzt: Den Acht wird „die Verletzung der Rechte der Arbeiter“ vorgeworfen, da sie verhindert hätten, dass Arbeitswillige ins Werk konnten. Fast die Hälfte der Haftstrafe wird alleine dafür gefordert. Außerdem sollen sich die Angeklagten nicht mehr zur Betriebsratswahl stellen dürfen. „Die Anklage liest sich wie aus Zeiten vor der Demokratie“, sagt Alcázar.
„Ich hoffe, dass die Gesellschaft aus ihrer Siesta erwacht“, fügt er hinzu. Auch wenn das Verfahren von der spanischen Presse kaum beachtet wird, wächst die Solidarität mit den Betroffenen. Sie genießen breite Unterstützung von Juristen. Selbst einige Richter und Staatsanwälte stellen sich auf ihre Seite. Der europäische Gewerkschaftsbund verabschiedete eine Protestnote. Über Zehntausend Airbus-Beschäftigte zogen Mitte März vom Werktor ins Zentrum von Getafe. Der dortige Gemeinderat und selbst der konservative Bürgermeister unterstützen die Angeklagten.
„Ich denke, wir werden das Verfahren gewinnen“, redet sich Alcázars junger Kollege Gil Mut zu. Kinderpläne mit seiner Partnerin hat er allerdings erstmal auf Eis gelegt, solange das Verfahren läuft. „Ich hatte eigentlich nie vor, so viel Protagonismus zu haben. Die Heldenrolle steht mir irgendwie nicht“, sagt er zum Abschied.