© 2013 Reiner Wandler

Tunesiens Islamisten treten ab

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Die tunesische Regierung tritt ab. Darauf einigten sich nach zwei Monaten dauernden Verhandlungen am Samstag die regierende islamistische Partei Ennahda und die Opposition. Binnen einer Woche soll ein neuer, unabhängiger Regierungschef eingesetzt werden, der dann weitere zwei Wochen hat, um ein Kabinett aus unabhängigen Technokraten zusammenzustellen.

Diese neue Exekutive soll dann binnen eines Monats zusammen mit allen politischen Kräften des Landes in einem „nationalen Dialog“ den Verfassungsentwurf des vor knapp zwei Jahren gewählten ersten freien Parlaments endgültig fertigstellen. Der Text muss dann vom Parlament mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit verabschiedet werden. Danach werden Wahlen eingeleitet.

Das sogenannte Quartett, bestehend aus der mächtigen Gewerkschaft Union Générale Tunisienne du Travail (UGTT), dem Arbeitgeberverband, der Menschenrechtsliga und der Anwaltsvereinigung hatte als Vermittler gewirkt und das Abkommen ausgearbeitet. Es wurde am Samstag Abend von Ennahda-Chef Rachid Ghannouchi und von den wichtigsten Oppositionsführern unterzeichnet. Eine der beiden kleinen, säkularen Koalitionspartner Ennahdas, der Kongress für die Republik von Übergangspräsident Moncef Marzouki, lehnte das Abkommen ab. Tunesien stürzte am 14. Januar 2011 den langjährigen Diktator Zine el Abidine Ben Ali und löste damit die Protestwelle in der arabischen Welt aus.

Ennahda und in der „Nationalen Heilsfront“ zusammengeschlossenen Opposition wollen mit der Einigung auf eine Technokratenregierung das Land aus der seit Monaten anhaltenden schweren politischen Krise führen. Diese wurde durch die Morde an zwei Oppositionspolitiker im Februar und im Juli diesen Jahres ausgelöst. Große Demonstrationen warfen den regierenden Islamisten in beiden Fällen vor, zu tolerant mit radikalen Islamisten, die hinter den Taten vermutet werden, umzugehen. Ennahda musste jetzt dem Druck der säkularen Oppositionsparteien nachgeben.

„Ich möchte mich bei Ihnen für die Teilnahme am Dialog bedanken, weil sie der Hoffnung in Tunesien die Tür öffnen“, richtete sich der UGTT-Generalsekretär Houcine Abassi an die Unterzeichner.“Tunesien durchläuft eine nie dagewesene politische, wirtschaftliche und soziale Krise, die mutige Maßnahmen verlangt“, fügte er hinzu. Die Gewerkschaft will den Prozess weiterhin vermittelnd begleiten.

Die endgültige Redaktion der Verfassung birgt noch einigen politischen Sprengstoff. Hauptstreitpunkte sind die Rolle der Religion und die Freiheiten der Frauen, für die das traditionell säkulare Tunesien in der arabischen Welt bekannt ist. Bei beiden Punkten hat Ennahda in den vergangenen zwei Jahren umstrittene Positionen im Verfassungsentwurf festgeschrieben.

 

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Meine Meinung

Vorreiter Tunesien

Das kleine Tunesien ist Vorreiter. Dies galt lange vor dem arabischen Frühling. Es war das erste Land in der arabischen Welt, das eine Verfassung hatte. Hier wurde die erste arabische Gewerkschaftszentrale ins Leben gerufen und nach der Unabhängigkeit schrieb Tunesien erstmals die Frauenrechte fest. Und jetzt zeigt Tunesien wieder, wie es auch anders gehen kann. Opposition und Islamisten einigten sich auf einen Rücktritt der Regierung und einen Dialog, um eine Entwicklung wie in Ägypten zu verhindern.

Das kleine nordafrikanische Land versucht die tiefe Krise zwei einhalb Jahre nach dem Sturz der Diktatur friedlich beizulegen. Und es könnte gelingen. Denn beide Seiten scheinen sich nach monatelangem Ringen der Verantwortung bewusst.

Die Islamisten von Ennahda wissen, dass sie nach den Morden an zwei Oppositionspolitikern immer tiefer in der Popularität sinken. Viele Menschen machen die Regierung indirekt dafür verantwortlich. Sie gehe zu lasch gegen religiöse Fanatiker vor. Auch die zahlreichen Verhaftungen und Verfahren gegen kritische Künstler, wie dem Rapper Weld el-15, tragen zum Unmut gegen die Islamisten bei. Wollen sie bei den kommenden Wahlen ein einigermaßen gutes Ergebnis erzielen, müssen sich die Islamisten mäßigen und am Dialog konstruktiv teilnehmen.

Die Opposition hat hoch gepokert und letztendlich mit dem Rücktritt der Ennahda-Regierung zugunsten unabhängiger Experten, gewonnen. In neue Wahlen wird sie gestärkt und vor allem geschlossener als vor zwei Jahren gehen.

Der Erfolg ist nicht zuletzt der Verdienst einer starken Zivilgesellschaft, die 2011 die Diktatur stürzte und seither den den politischen Prozess aufmerksam verfolgt und ihre Rechte zu verteidigen weiß.

All das sind Zutaten, die optimistisch stimmen. Tunesien ist das Land, das aus dem arabischen Frühling als wirkliche Demokratie hervorgehen könnte – und es würde damit einmal mehr als Pionier in die Geschichte eingehen.

Was bisher geschah: