„Stell dir vor es gibt Wahlen, und keiner geht hin“ – in Algerien wird diese Anarcho-Fantasie jetzt wohl war. Nicht etwa dass die Wähler ausbleiben – die Wahlbeteiligung muss im nordafrikanischen Land von jeher vom Regime retuschiert werden – nein, es fehlt an Kandidaten. Für die auf den 4. Juli festgesetzte Präsidentschaftswahl haben gerade einmal zwei völlig unbekannte Algerier ihr Dossier eingereicht.
Es handelt sich um den Tierarzt und Unternehmer Abdelhakim Hamadi sowie um den Pharmavertreter, der zeitweise auch im Bausektor tätig ist, Hamid Touahri. Der Verfassungsrat muss jetzt prüfen, ob die beiden alle Bedingungen für eine Kandidatur erfüllen. Nationalität und Wohnsitz im Lande dürfte kein Problem sein. Aber die Presse bezweifelt, dass sie die Bürgschaft von 600 gewählten Volksvertretern oder die Unterschrift von 60.000 Bürgern aus mehr als der Hälfte der 48 Provinzen des Landes vorweisen können. Ist dem nicht der Fall, wird es am 4. Juli keine Wahlen geben.
Das Fehlen von Kandidaten ist der vorläufige Höhepunkt in einem seit dem 22. Februar anhaltenden Konflikt zwischen Bevölkerung und Regime um die Zukunft des Landes. An jenem Freitag gingen zum ersten Mal Zehntausende für einen Regimewechsel auf die Straße. Sie wollten verhindern, dass der schwerkranke Präsident Abdelaziz Bouteflika nach 20 Jahren an der Macht erneut kandierte. Bouteflika zog sich tatsächlich zurück. Doch die Proteste reissen nicht ab.
Freitag für Freitag gehen mittlerweile im ganzen Land Hunderttausende auf die Straße. Sie wollen vorerst überhaupt keine Wahlen, sondern einen Übergang zu einem neuen, demokratischeren Algerien. Unter dem Druck der Straße halten zwar die Parteien, die einst Bouteflika stützten, am 4. Juli als Wahltermin fest, doch Kandidaten schickten auch sie keine.
„Das Land steht vor einer beispiellosen Situation in seiner Geschichte – wahrscheinlich auch weltweit – nämlich vor einer Präsidentschaftswahl, die von den Wählern schon im Vorhinein boykottiert wird und die keine wichtigen Kandidaten für das höchsten Amt im Staate hat“, fasst die Tageszeitung Algerien, Liberté, zusammen. „Die Wahlen vom 4. Juli werden ohne jeden Zweifel verschoben oder annulliert“, ist sich das wichtigste francophone Blatt des Landes, El Watan, sicher. Dies wäre ein schwerer Schlag für die Armeeführung rund um General Ahmed Gaïd Salah, die in den Wahlen am 4. Juli die einzige friedliche Möglichkeit sah, Zeit zu gewinnen, um die alte Machtstrukturen auch ohne Bouteflika so weit wie möglich zu erhalten.
In 14 Protestfreitagen hat die Opposition damit mehr erreicht, als viele zu hoffen wagten. Doch die Opposition ist zersplittert, Es fehlt an klaren Strukturen und es fehlt an Führern und damit an einer gemeinsamen Strategie. Das soll sich jetzt ändern. Am vergangenen Samstag trafen sich zum zweiten Mal über 60 Organisationen, von freien Gewerkschaften über Menschenrechtsorganisationen, die Jugendorganisation RAJ, bis hin zum Verband der Angehörigen von Verschwundenen, SOS Disparus. Sie wollen einen gemeinsamen Plan für einen politischen Übergang ausarbeiten.
„In mehreren Punkten herrscht Übereinstimmung“, berichtet Messaoud Boudiba, Sprecher der freien Lehrergewerkschaft Cnapeste, in deren Räume in Algier die Treffen stattfanden. „Wir sind alle für den Bruch mit der gegenwärtigen Macht; wir sind alle für eine Periode des friedlichen demokratischen Übergangs. Alle sind für eine Übergangsregierung mit vom Volk gewählten Personen, sowie und für die Ernennung eines unabhängigen Gremiums, das die Wahlen organisiert und überwacht“, fasst er zusammen.
Sollten die Wahlen tatsächlich suspendiert werden, wäre dies de facto ein Schritt ausserhalb der bisherigen verfassungsmässigen Ordnung. Die einzige verbleibende, sichtbare Machtstruktur wäre dann die Armee. „Niemand kann heute bestreiten, dass die wirkliche Macht heute bei der Armee liegt. (…) Die Armee muss deshalb die Übergangszeit begleiten, nicht managen, sondern nur begleiten“, wünscht sich Messaoud Boudiba. General Gaïd Salah schweigt sich bisher zu einer Suspendierung der Wahlen und den Folgen aus.