Das reale Spanien ist an der Macht. Der neue sozialistische Regierungspräsident Pedro Sánchez gewann das Misstrauensvotum gegen den konservativen Mariano Rajoy mit einer deutlichen Mehrheit, bestehend aus einem breiten Sammelsurium politischer Kräfte, von der linksalternativen Podemos über seine mitte-links Sozialdemokraten der PSOE bis hin zu linken ja selbst konservativen Nationalisten und Separatisten aus dem Baskenland und Katalonien. Sie eint der Wunsch, die korrupten Seilschaften der Konservativen aus den Institutionen zu verbannen, in der sie seit Jahrzehnten wie ein Parasit hausen.
Die Mehrheit von Sánchez beim Misstrauensvotum ist so bunt und vielfältig wie das Land. Diese Parteien repräsentieren weit mehr Wähler als Rajoys Partido Popular (PP) und die rechtsliberalen Ciudadanos. Und sie werden dort gewählt, wo PP und Cs kaum Stimmen holen, in der Peripherie. Ihr Spanien ist plurinational.
Es ist eine zersplittert, oft zerstritten Mehrheit, doch wenn sie aus der Not zum Dialog eine Tugend macht, kann Sánchez regieren und wichtige Probleme angehen. Der Druck ist groß. Denn gegenüber steht das Bündnis aus PP und Cs, die eine harte unerbittliche Opposition angekündigt haben. Die beiden eint ein Bild von Spanien, das mit der Realität nur wenig zu tun hat. Ihr Spanien ist „einheitlich und groß“, wie einst das der Franco-Diktatur. Kulturelle, sprachliche, ja nationale Unterschiede sind für die beiden rechten Parteien nur lästige Folklore. Die eigene Sprache der Katalanen, der Basken, der Galicier sind ihnen ein Dorn im Auge. Die letzte Bildungsreform der Konservativen versucht ihren Einfluss zurückzudrängen.
Vor allem Cs lebt von diesem Konflikt, seit sie vergangenen Dezember stärkste Kraft im katalanischen Parlament wurden und auch spanienweit in den Umfragen steigen. Härter noch als die PP wettern sie gegen Sánchez. Er habe das Land an die verkauft, die „Spanien zerstören wollen“. „Nutzen Sie diese Monate, um Rechte und Freiheiten zu verletzen (…) denn schon sehr bald werden die Spanier sagen: Es ist genug“, richtet sich Cs-Chef Albert Rivera, der in Spanien nichts anders als Spanier sehen will, den Nationalisten.
Das Spanienmodell der Rechten ist zutiefst autoritär. In den Jahren des Katalonienkonflikts gab es weder von der PP in Madrid noch von der in Katalonien starken Cs den geringsten Versuch einen Dialog mit den Befürwortern der Unabhängigkeit zu führen. Statt Politik zu machen, nutzte Rajoy die Justiz. Das Ergebnis: sieben katalanische Ex-Minister und zwei Aktivisten sitzen in Untersuchungshaft. Sieben Politiker, darunter der ehemalige Chef der Regierung, der Generalitat, Carles Puigdemont, haben Spanien verlassen. Allen drohen jahrzehntelange Haftstrafen. Die Separatisten sind nicht die einzigen, die zu spüren bekamen, dass wer anders ist, mit dem Schlimmsten rechnen muss. Auch Puppenspieler, Rapper und Twitteraktivisten wurden mit Hilfe eigens geschaffener Sicherheitsgesetzte in den letzten Jahren zu Haftstrafen verurteilt.
In den Monaten seit dem umstrittenen Unabhängigkeitsreferendum in Katalonien am vergangenen 1. Oktober ist es schwierig ausserhalb der Regionen mit eigener Sprache und Kultur eine andere Meinung als die von PP und Cs offen auszusprechen. Nur die linksalternative Podemos tritt unbeirrt für eine Vermittlung ein, und muss dafür bei Umfragen Federn lassen. Sánchez und die Sozialisten trauten sich bisher nicht. Sie schauen auf die Umfragen, in denen Cs dank ihrer Konfliktbereitschaft und ihres antiquierten spanischen Nationalismus ständig zulegen. Sánchez gab den seinen die Anweisung die Zwangsverwaltung Kataloniens mit Hilfe des Verfassungsartikels 155 zu unterstützen. Er sprach sich bis heute nie gegen die Inhaftierung der katalanischen Politiker aus.
Jetzt will er, so sein Versprechen, den Dialog suchen. Ihm bleibt nichts anderes übrig, als auf die katalanische Regierung von Quim Torra zuzugehen. Ein erster Schritt könnte sein, die Inhaftierten zumindest in heimatnahe Haftanstalten verlegen zulassen, anstatt sie weiter in Madrid festzuhalten. Doch ohne eine Reform des spanischen Regionalmodells wird es langfristig keinen Frieden mit den Regionen wie Katalonien oder auch dem Baskenland geben. Nur wer sich im gemeinsamen Haus Spanien wohl fühlt, wird von den Unabhängigkeitsbestrebungen ablassen. Zum Bleiben zwingen lässt sich niemand gerne.
Es steht zu befürchten, dass PP und Cs jetzt aus der Opposition das Thema Katalonien noch weiter strapazieren und ein Wettkampf darum ausbricht, wer der größere spanische Patriot ist. Die können auf die Unterstützung durch einen Großteil der Presse und der wichtigsten Unternehmen des Landes setzen. Seit der ersten Minute muss sich Sánchez vorwerfen lassen, er habe „dunkle Abkommen“ mit den „Feinden Spaniens geschlossen“. Um diese erdrückende Hegemonie der Rechten in der Katalonienfrage – oder besser gesagt der Frage Spaniens – zu brechen, muss Sánchez Mehrheiten in der Bevölkerung schaffen.
Nichts hat die Menschen in Spanien so aufgebracht, wie die Sparpolitik. Es ist richtig, dass Spanien die Krise überwunden hat, wie Rajoy immer wieder stolz beteuerte. Zumindest bei den makroökonomischen Daten, doch unten kommt davon nichts an. Die Arbeitsverhältnisse und die Löhne sind dank einer Arbeitsmarktreform prekärer denn je. 1,2 Millionen Arbeitslose erhalten keine Stütze, täglich werden 100 Wohnungen zwangsgeräumt, die Warteschlangen bei der Gesundheitsversorgung werden immer länger, bei der Bildung fehlt es an allem, von Lehrern über Material bis hin zu Unterstützung sozial schwacher Schüler. Gleichzeitig verschwanden Milliarden von Euro in der Korruption.
Die Empörung darüber ist eine der Hauptgründe warum in Spanien so viele Menschen politikverdrossen sind. Sowohl die Separatisten als auch die, die den ganzen Tag die spanische Fahne schwenken, machen sich dies zu nutze. Nur wenn Sánchez mit den versprochenen „sozialen Dringlichkeitsmaßnahmen“ Erfolg hat, kann er Vertrauen in seine Politik schaffen. Dies würde ihm den Spielraum für kreative Ansätze bei so schwierigen Fragen wie Katalonien geben. Politik muss begeistern, um von der Mehrheit der Bevölkerung Spaniens wieder als die ihre begriffen zu werden.