© 2017 Reiner Wandler

Die Züge sind zum Stillstand gekommen

 

Die 18-jährige Laura hat ihre Stimme an Puigdemont weitergegeben und wählt in seinem Auftrag. Foto: JxCAT

Es gibt nur ein Thema im Markt Sant Antoni in Barcelona und das ist erstaunlicherweise nicht das für Samstag Abend anstehende „Clásico“ von Real Madrid gegen den FC Barcelona. Es geht um profaneres, um das Ergebnis der katalanischen Autonomiewahlen vom Donnerstag.

„Es haben die gewonnen, die gewinnen mussten, oder?“ fragt Lluís Salvador und meint damit den Block der Unabhängigkeitsbefürworter. Stärkste Kraft wurde dort überraschend „Gemeinsam für Katalonien“ (JxCAT), von Carles Puigdemont, dem nach seiner Amtsenthebung und Ermittlungen wegen „Rebellion“, „Aufstand“ und „Veruntreuung öffentlicher Gelder“ nach Brüssel geflohenen ehemaligen katalanischen Ministerpräsidenten. Zusammen mit der republikanische Linke Kataloniens (ERC) des inhaftierten, einstigen Vizeregierungschefs Oriol Junqueras und der antikapitalistische CUP haben sie erneut die absolute Mehrheit im Autonomieparlament.

Puigdemont, dem er seine Stimme gegeben hat, sei „der einzige, der jetzt eine Regierung bilden kann“, sagt der 59-jährige Fischhändler, der in vierter Generation einen Marktstand führt, zufrieden. Er sortiert seine Auslage und fährt dann fort: „Die schweigende Mehrheit hat gesprochen.“ Er grinst dabei. Mit diesem Ausdruck belegten die „Unionistas“ diejenigen, die üblicherweise nicht zu den Wahlen gehen. Sie hofften darauf, dass eine hohe Wahlbeteiligung die Waage zu ihren Gunsten ausschlagen lassen würde. Die Beteiligung lag mit knapp unter 82 Prozent 5 Punkte über der von 2015 und war so hoch wie nie zuvor. „Und es ist alles beim Alten“, freut sich Salvador. Der Block der „Independendistas“ hat zwei Sitze verloren. Doch zur absoluten Mehrheit reicht es allemal.

Die langen Reihe aus weißen Zelten, in denen der Markt Sant Antoni während einer nicht enden wollenden Renovierung des historischen Backsteingebäudes untergebracht ist, zeugt von den bewegten Zeiten der letzten Monate. Da hängen Reste von Plakate, die zum durch Madrid verbotenen Unabhängigkeitsreferendum vom 1. Oktober rufen. Ein Generalstreik wird angekündigt. Sprühereien beschwören, das Katalonien nicht Spanien ist. Plakate mit der Aufschrift „Willkommen Republik“ erinnern an jenen 27. Oktober als das katalanische Parlament die Unabhängigkeit ausrief.

Madrid schritt mit Hilfe des Verfassungsartikels 155 ein. Enthob die Regierung ihres Amtes, übernahm die Verwaltung der nordostspanischen Region, löste das Autonomieparlament auf und setze die Neuwahlen vom Donnertag an. Gelbe Schleifen zeugen von der Solidarität mit den noch immer inhaftierten Ministern und Aktivisten, sowie mit den fünf im Brüssler Exil – unter ihnen der alte und wohl auch neue katalanische Regierungschef Carles Puigdemont.

„Ich bin von jeher für die Unabhängigkeit“, fährt Fischhändler Salvador fort. „Doch es ist gut, dass das ganze Hin und Her vorbei ist“, meint er. Jetzt müsse endlich verhandelt werden. Was er sich von einem Dialog zwischen der alten und wohl auch neuen Regierung in Barcelona und der in Madrid erhofft: „Ein Referendum über die Zukunft Kataloniens, in beiderseitigem Einverständnis, so wie in Schottland.“

Doch das sei jetzt nicht unbedingt einfacher als vor den Wahlen. Die Partido Popular (PP) Rajoys hat nur noch drei Abgeordnete im neuen katalanischen Parlament und ist damit zur Bedeutungslosigkeit verkommen. Die Wähler liefen in Scharen zu den rechtsliberalen Ciudadanos (Bürger) (C‘s) unter Inés Arrimadas über. Die Partei, die erst seit zehn Jahren in der katalanischen Volksvertretung mitmischt, wurden zur stärksten Kraft und führt jetzt die Seite der „Unionistas“, den Verteidigern der Einheit Spaniens, an. „Denn harten Kern der spanischen Rechten“ sieht Salvador in ihnen. Schließlich habe Arrimadas und Parteichef Albert Rivera die Zwangsverwaltung Kataloniens gefordert, lange bevor der konservative Ministerpräsident Mariano Rajoy dies umgesetzte. „Egal was Rajoy macht, Ciudadanos wird ihn vor sich hertreiben“, beendet Salvador seine Sicht der Dinge. Es ist Kundschaft gekommen.

José de Corral ist einer derer, die zu Ciudadanos übergelaufen ist. Rajoy war ihm viel zu zögerlich. „Ich hätte auch die Fremdenlegion gewählt, wenn sie sich zur Wahl gestellt hätte“, macht der 72-jährige Rentner, der einst aus Südspanien nach Katalonien kam, aus seinen radikal-unionistischen Ansichten keinen Hehl.

Irgendwie fühlt er sich um den Wahlsieg betrogen. Denn das gesamtspanische Wahlgesetz das anders als in vielen Regionen, auch in Katalonien gilt, bevorteilt ländliche Gebiete. Und dort sind die Hochburgen der „Independendistas“, während seine C‘s in den Ballungsräumen wie den Vororten von Barcelona gewonnen hat. „Ein Mann eine Stimme“, fordert De Corral deshalb.

Erstaunlicherweise ist auch er – anders als C‘s, Rajoys PP oder die Sozialisten (PSC) für ein Referendum nach schottischem Vorbild „Wir müssen endlich wissen woran wir sind“, sagt er. Dazu sei ein Dialog nötig. „Ich sehe leider weder auf beiden Seiten nicht das intellektuelle Niveau für solche Verhandlungen“, sagt er nachdenklich und nimmt einen Zug an seiner Zigarre.

Sollte es zum Referendum kommen und dabei die Unabhängigkeit gewinnen, „dann macht das auch nichts“. Dann lebe er eben als Ausländer in Katalonien. „Meine Frau ist von hier, meine Kinder sind hier geboren, ich gehe nicht weg“, beendet er das Gespräch und verschwindet mit seinem Einkaufswagen im Gewühl.

Vom Zusammenprall zweier aufeinanderzurasender Züge war in den letzten Monaten oft die Rede. Jetzt nach den Wahlen scheinen sie endgültig zum Stillstand gekommen zu sein. „Wir sind wieder genau da, wo wir auch vor dem 1. Oktober waren“, ist sich Marta Gil sicher. Die 48-jährige Sekretärin hat einen freien Tag und macht den Familieneinkauf. Doch zuerst gibt es einen Kaffee in der Bar direkt neben dem Eingang der provisorischen Markthalle. „Die Koalition der Unabhängigkeitsbefürworter besteht weiterhin. Puigdemont ist unser legitimer Präsident. Jetzt ist Rajoy am Zug“, sagt sie.

Sie selbst habe die Liste von Puigdemont gewählt. „Vor allem aus Protest gegen seine Amtsenthebung und das Exil“, sagt sie. Eigentlich würde sie sonst eher linke Unabhängigkeitsbefürworter bevorzugen.

Eine Lösung für die verfahrene Situation? Jetzt müsse erst einmal Puigdemont zurückkommen – „ohne dass sie ihn gleich verhaften“. Wenn es soweit ist, will Gil auf jeden Fall bei denen sein, die den „President“ empfangen.

Für sie wäre dies der zweite Empfang dieser Art. Es war vor genau 40 Jahren, als der einstige Ministerpräsident Josep Tarradellas nach knapp 40 Jahren Diktatur aus dem französischen Exil zurückkam. Ihre Eltern und ihr Onkel, der unter der Diktatur als Repressalie für seine politischen Ansichten keine Reisepass bekam, nahmen die kleine Marta mit. Gil war damals acht Jahre alt. „Es gibt Momente, die man nie vergisst, und die dich fürs Leben prägen“, sagt sie nachdenklich.

Auch sie will Verhandlungen zwischen Barcelona und Madrid und ein Referendum „wie in Schottland“. „Rajoy kann eigentlich nicht länger Nein sagen“, glaubt sie. Ihre Hoffnung gilt Europa: „Die können jetzt nicht mehr länger wegschauen, oder?“

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