© 2017 Reiner Wandler

Schrittweise Unabhängigkeit

Der katalanische Präsident Carles Puigdemont erklärte am Dienstagabend vor dem Autonomieparlament in Barcelona die Unabhängigkeit Kataloniens, um sie im gleichen Augenblick auszusetzen. „Angekommen an diesem historischen Moment und als Präsident der Generalitat … stelle ich das Mandat des Volkes vor, dass Katalonien in Form einer Republik ein unabhängiger Staat wird“, sagt er. Und fügte dann hinzu: „Die Regierung und ich schlagen vor, dass das Parlament die Auswirkungen der Unabhängigkeitserklärung aussetzen wird, so dass wir in den kommenden Wochen einen Dialog führen.“

Zuvor hatte er ausführlich den Weg erklärt, denn er und die Unabhängigkeitsbewegung beschritten haben, um zu diesem Punkt zu gelangen. Er bedauerte die Polizeigewalt seitens der Zentralregierung in Madrid gegen die Volksabstimmung am vergangenen 1. Oktober. Die Ja-Stimmen entsprechen damit allerdings nur 38 Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung. Viele bezweifeln, dass dies eine rechtliche Grundlage für eine Unabhängigkeitserklärung sei. So die Bürgermeisterin Barcelonas Ada Colau. Puigdemont erklärte, er richte sich an die gesamte Bevölkerung Kataloniens, diejenigen, „die für die Unabhängigkeit demonstriert haben, diejenigen, die für den Dialog demonstrierten und diejenigen, die gegen die Unabhängigkeit“ auf die Straße gingen. Katalonien werde sich nicht spalten lassen, beschwor er.

Die Sitzung des Parlamentes war eine Stunde verschoben worden, da die antikapitalistische Kandidatur der Volkseinheit (CUP), die Minderheitsregierung von Puigdemont und seinem „Bündnis Gemeinsam für das Ja“ (JxSí) unterstützte auf eine sofortige Unabhängigkeit in vollem Umfange drängten. Erfolglos, wie sich zeigte.

Die Parlamentssitzung fand unter hohen Sicherheitsmaßnahmen statt. Die Autonomiepolizei Mossos d‘Esquadra hatten den Park um das Gebäude vollständig abgeriegelt, um Demonstrationen zu verhindern. Ausserhalb des Polizeigürtels versammelten sich Tausende Anhänger der Unabhängigkeit. Gerufen hatten die Katalanische Nationalversammlung (ANC) und Òmnium, die beiden Organisationen, die seit Jahren das Rückgrat der Unabhängigkeitsbewegung stellen und die großen Demonstrationen in den letzten Jahren am katalanischen Nationalfeiertag der Diada (11. September) organisierten. Der Vorsitzende der ANC, Jordi Sánchez, und der von Òmnium, Jordi Cuixart, hatten in den vergangenen tagen intensiven Kontakt mit Puigdemont, während dieser seine Erklärung ausarbeitete. „Es wird welche geben, die die Erklärung Puigdemonts als Raum für einen Dialog auffassen werden und andere die sie als Kriegserklärung sehen“, sagte Sánchez am Dienstagmorgen in einem Fernsehinterview.

Jetzt warten alle gespannt auf die Reaktion aus Madrid. Die Regierung Rajoy hatte einmal mehr kurz vor der Ansprache von Puigdemont jeden Dialog abgelehnt. „Es kann keine Vermittlung geben zwischen dem Gesetz und der Illegalität, zwischen Demokratie und der Tyrannei“, erklärte die stellvertretende Regierungschefin Soraya Sáenz de Santamaría vor der zweiten Kammer des spanischen Parlamentes, dem Senat. Diesem steht es zu, eine etwaige Aussetzung der katalanischen Autonomie mit dem Verfassungsartikel 155 zu beschließen. Im Senat hat Rajoys Partido Popular (PP), anders als im Kongress, die absolute Mehrheit. Ebenfalls unklar blieb wie die sozialistische PSOE reagieren wird. Reicht ihr der leichte Rückzieher Puigdemonts oder wird die eine harte Linie gegen die katalanische Regierung, die mit deren Inhaftierung enden könnte, unterstützen. Die rechsliberalen Ciudadanos fordern seit Tagen die Anwendung des 155. Und die linksalternative Podemos setzt als einzige Kraft auf Dialog, obwohl auch sie das Referendum als Grundlage für eine Unabhängigkeit nicht anerkennen. Podemos fordert eine erneute Abstimmung im beiderseitigen Einvernehmen.

Eines steht fest: Die Polizeikräfte, die eigens zum Referendum nach Katalonien geschickt wurden, werden „solange bleiben, bis die Rechte und Sicherheit aller Katalanen garantiert ist“, erklärte der spanische Innenminister Juan Ignacio Zoido. Er hatte das Aufgebot an allen Grenzübergängen, Flughäfen, Bahnhöfen und vor den Gebäuden der spanischen Zentralregierung in Katalonien verstärkt. Vor dem Obersten Katalanischen Gerichtshof ersetzte spanische Polizei die Autonomiepolizei./Foto: Parlament

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Meine Meinung

Kriegserklärung oder Aufruf zum Dialog?

Der katalanische Präsident Carles Puigdemont erklärte am Dienstagabend vor dem Autonomieparlament in Barcelona die Unabhängigkeit Kataloniens, um sie im gleichen Augenblick auszusetzen. Damit geht der Streit wohl weiter. Seine Erklärung bietet für jeden etwas. Es ist eine Unabhängigkeitserklärung und damit ein Akt, der geltendes spanisches Verfassungsrecht bricht, und es ist ein Dialogangebot, je nachdem wer die Worte wie liest.

Es steht zu befürchten, dass sich die Zentralregierung die erste Interpretation zu eigen macht. Ministerpräsident Mariano Rajoy könnte bereits in den nächsten Stunde weitere, noch härtere Massnahmen einleiten. Die sansiche verfassung würde das zulassen. Von der Ausetzung der Autonomie und der Übernahem der katalanischen Regierungsgeschäfte direkt von Madrid aus, die Entsendung weiterer Polizeieinheiten und selbst der Armee, bis hin zum Ausnahmezustand stellt die Magna Charta aus dem jahr 1978 alles zur Verfügung. Doch klug wäre das nicht. Politische Probleme verlangen eine politische Lösung. Justiz, Polizei und Armee sorgen für eine Verschärfung des Konfliktes, eine Lösung bieten sie nicht.

Es ist an der Zeit, dass Madrid von Gewalt Machtdemonstrationen abzusehen und den Dialog suchen, wenn nötig mittels nationaler oder internationaler Vermittler. Wer glaubt, dass durch noch mehr Repression der Wunsch nach Unabhängigkeit eines breiten Teiles der katalanischen Bevölkerung bezwungen wird, täuscht sich. Er nimmt eher noch zu. Alle bisherigen Beispiele von Unabhängigkeitsbewegungen zeigen dies. Die einzige Lösung ist es, die Stimmen der Bevölkerung zu hören. Und dazu gibt es nur einen Weg. Eine Volksabstimmung in beiderseitigem Einverständnis, wie einst in Schottland oder Quebec. Je früher um so besser.

Die spansiche Verfasung von 1978 lässt dies nicht zu? Das stimmt. Aber eine Verfassung kann geändert werden. Wenn es sein muss über Nacht. Das bewiesen die konservative Partido Popular und die sozailistische PSOE als sie 2011 auf Wunsch aus Berlin und Brüssel mitten in der Sommerpause eine Schuldenbremse in die Verfassung aufnahmen.

Was bisher geschah: