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Rajoy aktiviert den Artikel 155

Es war eine Achterbahn der Gefühle für die Tausende, die sich am Dienstagabend vor dem katalanischen Parlament versammelt hatten, um live dabei zu sein, wenn ihr „President“ Carles Puigdemont die Unabhängigkeit Kataloniens erklärt. „Hallo Republik“ lautete das Motto der Versammlung mit Großleinwand. Endlich war er da, der Satz, auf den sie alle gewartet hatten. Er, Puigdemont, nehme „das Mandat des Volkes“ an, „dass Katalonien in Form einer Republik ein unabhängiger Staat wird“. Applaus, Jubel, Freude in den Gesichtern. Doch dann nur wenige Sekunden später, das: „Die Regierung und ich schlagen vor, dass das Parlament die Auswirkungen der Unabhängigkeitserklärung aussetzen wird, so dass wir in den kommenden Wochen einen Dialog führen.“, fügte Puigdemont hinzu. Es war wie ein Kübel kalten Wassers.

„Ich bin richtig enttäuscht. Eine sofortige Unabhängigkeit wäre das gewesen, was es braucht“, sagt Dani Bueso, der eigens aus einer Vorstadt angereist war. Er kann es immer noch nicht glauben. Irgendwann fügt er dann hinzu: „Ich verstehe allerdings auch das der ‚President‘ einem enormen Druck ausgesetzt ist. Ich hoffe auf die maßvolle Antwort aus Madrid“, sagt Bueso.

„Wir lassen uns jetzt nicht spalten“, sagt er weiter, als er erfährt, dass Kritik aus der eigenen Reihe nicht auf sich warten lässt. Es ist die Jugend der antikapitalistischen Kandidatur der Volkseinheit (CUP), die Puigdemont ganz konkret „Verrat“ vorwirft. Von Realpolitik angesichts der juristischen Drohungen aus Madrid, dem Umzug großer Unternehmen ins restliche Spanien oder von den Forderungen aus Europa, „nichts zu unternehmen, was nicht rückgängig zu machen ist“, wie dies EU-Ratspräsident Donald Tusk kurz vor dem Auftritt Puigdemont formulierte, wollen sie nichts wissen. Sie wurden um ihren Traum von der freien Republik Katalonien betrogen. Zu größeren Unmutsbekundungen auf der Straße kam es am tag nach der Parlamentssitzung dennoch nicht.

Es war der Tag des gespannten Wartens. „Ein Dialog, wie ihn Puigdemont vorgeschlagen hat, wäre wichtig“, sagt eine Angestellte in einer Apotheke in Barcelona. Beim Bäcker, der gleiche Ton. Alle schauen nach Madrid. Dort trat dann um die Mittagszeit Ministerpräsident Mariano Rajoy nach einer Sondersitzung seines Kabinetts vor die Kamera und machte den Wunsch von einem Dialog ohne Vorbedingungen zu nichte. Seine Regierung habe den gefürchteten Artikel 155 der spanischen Verfassung aktiviert, erklärt er stattdessen. Dieser sieht vor, dass alle Befugnisse der Autonomieregierung ausserkraft gesetzt werden. Und Katalonien von Madrid aus veraltet wird. In einem ersten Schritt dahin forderte Rajoy die Autonomieregierung Kataloniens förmlich auf, klarzustellen, ob die Rede Puigdemonts denn nun eine Unabhängigkeitserklärung darstelle, oder nicht. „In der Antwort, die der Präsident auf diese Anfrage gibt, wird sich abzeichnen, was in den nächsten Tagen passiert“, mahnt Rajoy.

Der sozialistische Generalsekretär Pedro Sánchez, der bis um ein Uhr in der früh im Regierungspalast Moncloa weilte, erklärte, dass er mit Rajoy dessen Vorgehen teile damit „Puigdemont schwarz auf weiß aufschreibt, was er erklärt hat“. Gleichzeitig versprach er auf eine Verfassungsreform hinzuarbeiten, um die territoriale Frage neu zu ordnen. Ciudadanos, mit deren Chef Albert Rivera der Ministerpräsident zwei mal lange telefonierte, besteht seit Tagen auf die Aussetzung der Autonomie Kataloniens mittels Artikel 155 der spanischen Verfassung, um dann Neuwahlen in Katalonien auszurufen. „Dies ist ein Putsch. Niemand hat das Ergebnis des Referendums anerkannt. Niemand in Europa unterstützt, was Sie gemacht haben“, sagte Inés Arrimadas, Ciudadanos Chefin in Katalonien nach der Ansprache von Puigdemont. „Die meisten Katalanen fühlten sich als Katalanen, Spanier und Europäer“, fügte sie hinzu.

Nur Unidos Podemos fordert einen Dialog ohne Vorbedingungen statt erneute Machtdemonstrationen. Der Chef der Linksalternativen, Pablo Iglesias, lobte Puigdemont für seine Besonnenheit. Es gehe jetzt statt erneuter Machtdemonstrationen darum, im Dialog „die Katalanen zu verführen“. Für ihn ist Spanien „plurinational“, ein „Land der Länder“.

Rajoy und Sánchez sind nicht die einzigen, die Zweifel an dem haben, was Puigdemont den nun erklärt hat. Politiker aller Parteien und die Teilnehmer an den politischen Talkshows streiten sich darüber, ob es denn nun eine Unabhängigkeitserklärung war oder nicht. Denn das Verwirrspiel ist weit komplizierter als die beiden Sätze aus seiner rede. Nach der Ansprache Puigdemonts unterzeichneten 72 Abgeordneten des Autonomieparlament eine Erklärung in der sie keinen Zweifel an ihrem Willen eine Katalanische Republik aufzubauen, so erklärten sie es in einem Dokument, das sie nach der Parlamentssitzung gemeinsam unterzeichneten. „Wir konstituieren die katalanische Republik, als unabhängigen und souveränen, sozialen, demokratischen Rechtsstaat. Wir ordnen das Inkrafttreten des Gesetzes zum juristischen und funktionalen Übergang der Republik an“, heisst es da unter Berufung auf das vom spanischen Verfassungsgericht ebenso wie das Gesetz Volksabstimmung am 1. Oktober suspendierte Gesetzeswerk. Diese Erklärung bleibt unwirksam, da Puigdemont selbst in seiner Rede die Aussetzung beantragte, um dem Dialog eine Chance zu geben. Ausserdem wurde die unterzeichnete Erklärung nicht offiziell beim Parlament eingereicht.

„Farce und Erpressung“ titelt die spanische Tageszeitung El Mundo. „Eine weitere Falle“, lautet die Überschrift des Leitartikels der El País. Die größte Tageszeitung des Landes spricht von „einem Ultimatum, das die Regierung auf keinen Fall akzeptieren kann.“ Ganz anders das wichtigste Blatt in Katalonien, La Vanguardia. „Das einzige, was sicher ist: Es gab keine einseitige Unabhängigkeitserklärung. Die Abenteurer, die dem Präsident (Puigdemont) ins Ohr flüsterten nicht triumphiert“, schreibt der Kolumnist Enric Juliana.

Auch wenn das Dokument, solange es nicht offiziell beim katalanischen Parlament eingereicht wurde, keine juristische Gültigkeit hat, dient es durchaus als Drohkulisse. So kündigte der Sprecher der katalanischen Regierung Jordi Turull vor Rajoys Auftritt an: „Wenn sie den Artikel 155 anwenden, werden wir konsequent sein.“

Es wird in den nächsten Tagen schwierig werden, das wissen alle, auch Dani Bueso. „ Puigdemont hat uns bis hierher gebracht, wir müssen ihm einfach weiter vertrauen“, erklärte er, bevor er nach der Ansprache vom Dienstag sichtlich enttäuscht den Nahverkehrszug nach Hause nahm.

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