© 2017 Reiner Wandler

Ende der Krise? Nein!

Von Spanien lernen heißt siegen lernen“ könnte das Motto lauten, ginge es nach Spaniens konservativem Ministerpräsidenten Mariano Rajoy. Immer wieder lobt er seine eigene Reformpolitik in höchsten Tönen, zuletzt auf dem G-20-Gipfel in Hamburg. Die Krise, die dem Euro 2012 fast den Garaus machte, ist für Rajoy Geschichte. Die Zahlen geben dem Konservativen, der sich des Beifalls der restlichen europäischen Regierungschefs gewiss ist, recht: 2017 ist das dritte Jahr in Folge, in dem die Wachstumsrate bei über drei Prozent liegt. Die Arbeitslosigkeit ist von knapp 21 Prozent mittlerweile auf unter 18 Prozent gesunken. Das durch die Bauspekulation angeschlagene Bankensystem wurde erfolgreich mit EU-Geldern gerettet.

Alles in bester Ordnung also? Nein! Denn was Rajoy geflissentlich vergisst, ist das, was unten davon ankommt. „Die Rechnung muss aufgehen – mit den Leuten darin“, lautet ein populäres Sprichwort aus dem Argentinien des Corralito. Wer diese Regel auf die europäische Krisenpolitik und speziell auf Länder wie Spanien – um von Griechenland ganz zu schweigen – anwendet, merkt schnell: Die Krise ist nicht vorbei. Denn Wachstum, Haushaltsdefizit und Bankensystem sind nicht alles – zumindest wenn die Analyse über die neoliberalen Dogmen hinausgehen soll.

Mit 18 Prozent Arbeitslosigkeit lebt weiterhin jeder vierte Arbeitslose der Eurozone in Spanien. Über 43 Prozent der jungen Menschen sind ohne Arbeit. Die Hälfte der Arbeitslosen erhält keine Stütze mehr. Und wer sich die Beschäftigtenstatistik genauer anschaut, merkt schnell, dass der Rückgang der Arbeitslosigkeit nur bedingt etwas mit der Schaffung neuer Arbeitsplätze zu tun hat.

So sind seit Beginn der Krise über doppelt so viele Spanier ausgewandert wie zuvor. Knapp 800.000 junge Menschen suchen Arbeit irgendwo in Europa oder Übersee. Viele Immigranten, die zur Zeit des Baubooms kamen, gingen zurück in ihre Heimat. Frustrierte Arbeitssuchende melden sich längst nicht mehr auf dem Arbeitsamt. Und: Die Gesellschaft veraltet.

All das führt zu einem Rückgang der arbeitenden Bevölkerung. Die Krise hat Spaniens Arbeitsmarkt grundlegend verändert. Industrielle Arbeitsplätze gingen verloren. Neue entstehen im Hotel- und Gaststättengewerbe. Dort liegt nicht nur das Lohnniveau weit unter dem, was in der Industrie und auf dem Bau üblich war; die Verträge sind prekär. Nur knapp acht Prozent der neuen Arbeitsverhältnisse sind mit einem festen Vertrag geregelt. Der Rest ist befristet und meist auch noch in Teilzeit. Selbst Verträge mit einer Stunde Arbeit am Tag sind keine Seltenheit.

Waren vor der Krise die „mileuristas“ – jene Menschen, die nur 1.000 Euro im Monat verdienen – beklagenswert, gehören sie jetzt zu den Besserverdienenden. Denn viele liegen weit darunter. Jeder Dritte kann von seinem Job nicht leben. Was die Konservativen Schaffung von Arbeitsplätzen nennen, ist eine Verteilung der Arbeit: Wo früher ein mehr oder weniger gut bezahlter Arbeiter angestellt war, sind es heute drei oder vier schlecht bezahlte. Berufseinsteiger und junge Menschen sind am meisten von dieser Entwicklung betroffen. Ihnen fehlt jede Zukunftsperspektive. Nur jeder fünfte zieht unter 30 Jahren zu Hause aus. Im europäischen Schnitt ist es jeder zweite.

Die Erholung der spanischen Wirtschaft ist, auch wenn dies nach gewerkschaftlichem Flugblatt klingen mag, Sache der Reichen. Spanien ist mittlerweile eines jener Länder Europas, in denen die soziale Schere am weitesten auseinandergeht. 28,6 Prozent der Bevölkerung lebt unter oder an der Armutsgrenze. Während 2006 die zehn Prozent der reichsten Spanier über ein zehnmal so hohes Einkommen verfügten wie die unteren zehn Prozent, verfügen sie jetzt über 15 mal soviel. Die Löhne der unteren zehn Prozent sind um 28 Prozent zurückgegangen, die der Mittelschicht um 8 Prozent, während die Einkommen der Besserverdienenden ständig steigen. Noch immer verlieren täglich 189 Menschen ihre Wohnung oder sonst eine Immobilie durch Zwangsräumung. Gleichzeitig ist die Zahl der Millionäre im Laufe der Krise um mehr als 50 Prozent gestiegen. Eine Caritas-Studie zeigt, dass 70 Prozent der Spanier keinerlei Besserung ihrer Lage verzeichnen.

Der soziale Kahlschlag geht trotz Wachstums weiter. Jahr für Jahr wird eine Obergrenze der Ausgaben für Regionen und Gemeinden festgelegt, bei gleichzeitiger Steuersenkung. Das führt zu weiteren Sparmaßnahmen und Privatisierungen, vor allem im Gesundheits- und Bildungswesen. Außerdem ist die Rentenkasse mittlerweile leer. Denn die Regierung bediente sich bei den Rücklagen, um eigenen Staatsanleihen aufzukaufen. Rund 70 Milliarden Euro verschwanden so aus der Sozialversicherung, die vor der Krise zu den bestabgesichertsten in Europa zählte. Gleichzeitig werden alleine aus der Bankenrettung 60 Milliarden Euro wohl für immer verloren sein. Denn anders als in den USA, Deutschland oder Großbritannien zahlten die Banken die Hilfsgelder nicht zurück.

Dass es auch anders gehen kann, zeigt der kleine Nachbar Spaniens: Portugal. Dort weicht eine sozialdemokratische Minderheitsregierung, die von linken Parteien unterstützt wird, seit Ende 2015 beharrlich und gegen den Widerstand aus Brüssel die Austeritätspolitik auf. Premier Antonio Costa hob den Mindestlohn um 25 Prozent an. Kürzungen bei Renten und Gehältern im Öffentlichen Dienst wurden zurückgenommen. Und soziale Programme, zum Beispiel gegen das Abdrehen von Strom und Gas bei Zahlungsunfähigkeit, wurden ins Leben gerufen. Außerdem nahm Costa teilweise die Mehrwertsteuererhöhung zurück. Die breite Mehrheit der Portugiesen hat so mehr Geld in der Tasche. Das kurbelt die Nachfrage an. Die Arbeitslosigkeit liegt erstmals seit Jahren wieder unter zehn Prozent. Der Staatshaushalt erholt sich. Die Zinsen für Staatsanleihen sinken.

Während das viel gepriesene Spanien einmal mehr an den Maastrichter Defizitvogaben scheitert, lag Portugal 2016 erstmals unter der 3-Prozent-Marke. Selbst Schäuble lobt mittlerweile den portugiesischen Finanzminister als den „Ronaldo Europas“.

Was bisher geschah: