Chon Vargas Mendieta ist sichtlich angespannt. Mit trauriger Blick folgt sie jeder Bewegung des Archäologen, der vorsichtig mit einer Kelle Erdschicht für Erdschicht abträgt. „Das Massengrab 1“, sagt die 59-jährige Anwältin. Wochenlang wurden hier auf dem Friedhof von Guadalajara, 60 Kilometer östlich von Madrid, nach Ende des spanischen Bürgerkrieges Anhänger der untergegangenen, demokratischen Ordnung von den siegreichen Faschisten unter General Francisco Franco standrechtlich erschossen und verscharrt. „Am 15. November 1939 ermordeten sie meinen Großvater, Timoteo Mendieta“, sagt Vargas mit leiser Stimme. Im Massengrab 1 sollen, so die Bücher, 24 Leichen liegen.
Großvater Mendieta war der verantwortliche des Gewerkschaftshauses der sozialistischen UGT in Sacedón, einem kleinen Dorf in den Bergen von Guadalajara. Er war weder Soldat der Republik noch Mitglied einer Miliz. „Nach Ende des Krieges wurde er abgeholt und später auf dem Friedhof erschossen“, sagt Vargas. Einschusslöcher an der Friedhofsmauer zeugen bis heute von dem Massaker, dem allein hier mehr als 800 Menschen zum Opfer fielen. In ganz Spanien waren es weit über 100.000, Linke, Gewerkschafter und Demokraten, die so endeten.
„Drei Jahre nach dem Tod von Diktator Franco wurde meine Großmutter erstmals vorstellig. Sie wollte den Leichnam ihres Mannes mitnehmen, um ihn ordentlich zu bestatten“, erzählt Vargas. Es wurde ihr nicht erlaubt. Das einzige, was die Familien erreichten, war die Genehmigung Gedenktafeln an den Massengräbern anzubringen. „Weil er die Demokratie und die Freiheit verteidigt hat“, steht auf der für Timoteo Mendieta.
Als die Großmutter 1988 verstarb, verlangte die Mutter von Chon Vargas, Ascensión Mendieta, weiterhin die Herausgabe der sterblichen Überreste. Auch sie hatte keinen Erfolg. „Die spanische Justiz nimmt sich dieser Fälle nicht an“, berichtet René Pacheco. „Für die Richter liegt kein Verbrechen vor“, fügt er Archäologe der Vereinigung zur Wiedererlangung der historischen Erinnerung (ARMH), der die Ausgrabung leitet.
Die juristische Begründung für die Untätigkeit geht wie folgt: 1977 – zu Zeiten des Übergangs von der Diktatur zur Demokratie – wurde in Spanien eine Amnestie für alle politisch motivierten Verbrechen erlassen. Die Verantwortlichen der Massaker wurde eingeschlossen. „Laut Strafgesetzt liegt kein Fall vor, wenn es keinen Täter gibt“, sagt Pacheco.
Dass sie hier graben dürfen, hat die Familie von Timoteo Mendieta der argentinischen Richterin María Servini zu verdanken. Das dortige Gesetz erlaubt, ähnlich wie das spanische auch, weltweit Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu verfolgen, wenn die Opfer zu Hause nicht gehört werden. Spanien ermittelte einst gegen die Verantwortlichen der argentinische und chilenische Diktaturen und Argentinien jetzt in Sachen Franco-Verbrechen. Tochter Ascensión Mendieta (91) und Enkelin Vargas reisten vor drei Jahren nach Buenos Aires und erwirkten ein internationales Hilfsgesuch für die Exhumierung. Dem Gericht in Guadalajara blieb nichts anderes übrig, als die Grabungen zu genehmigen. Für die Kosten kommt nicht etwa der spanische Staat auf, sondern die ARMH mit Spenden einer norwegischen Gewerkschaft.
Es ist bereits das zweite Mal, dass auf dem Friedhof Pacheco und sein Team in Guadalajara graben. Januar 2016 hoben sie das Massengrab 2 aus. „Laut Büchern sollte Timoteo Mendieta dort liegen. Doch die DNA-Analyse zeigte, dass Mendieta nicht unter den 22 Leichen war. In der gleichen Nacht 1939 wurden die letzen beiden Leichname ins Massengrab 1 geworfen und 8 weitere Leichen in vier kleinen Gräbern beigesetzt. Alle diese Grabstätten werden in den kommenden Wochen geöffnet. „Es war einer der schwersten Momente in meinem Leben, als mit mitgeteilt wurde, dass mein Großvater nicht unter den Exhumierten war“, erinnert sich Vargas mit Tränen in den Augen. Sie hofft, dass dieses mal das Drama ein Ende findet und ihre Mutter endlich den Großvater ordentlich beisetzen kann.