„People try to put us down – just because we get around – Talkin‘ ‚bout my generation“, lärmen The Who bei jedem Anruf wie eine Art Lebensmotto aus dem Telefon von Javier López. Und die Anrufe sind zahlreich, denn der 49-Jährige Arbeitslose ist so eine Art Museumsdirektor. Zusammen mit einem Dutzend Anderer aus dem 320-Seelenort Fanzara in den Bergen der Provinz Castelló, unweit der Costa Azahar, einem der begehrtesten Urlaubsparadiese am Mittelmeer, erfanden er das „Unvollendete Museum Urbaner Kunst“ (MIAU). Im vergangenen Jahr verzierten erstmals 22 nationale und internationale Künstler und Künstlerinnen die kahlen Wände mit insgesamt 47 Graffitis und Wandmalereien. Dieser Tage sind erneut 16 Maler mit Spray, Pinsel und Rollen unterwegs, darunter so große Namen, wie Gonzalo Borondo, dessen überdimensionalen Wandmalereien weltweit Aufsehen erregen. „Das Dorf der Kunst“ nennt die Presse den bis vor Kurzem völlig unbekannten Ort, der dieses Wochenende sein zweites Straßenkunstfestival veranstaltet.
Javier sitzt mit einer handvoll Mitstreiter in der Bar d’Abajo, der Dorfkneipe an der kaum befahrenen Durchgangsstraße, dem informellen Hauptquartier des MIAU. Die Künstler, die nach und nach eintreffen, werden hier empfangen. Einwohner, die als Freiwillige helfen, kommen regelmässig vorbei. Javier erzählt gerne, wie alles anfing. Dann ist nicht etwa von der Liebe zur Kunst die Rede, sondern von etwas viel Profanerem, einer Mülldeponie.
„Ohne sie hätte es das MIAU nie gegeben“, erinnert sich Javier. 2005 wollte die Provinzverwaltung der konservativen Partido Popular zusammen mit dem Bürgermeister gleicher Couleur das Tal unter dem Ort mit Haushalts- und Sondermüll aus Krankenhäusern aufschütten. „Wir protestierten. 2011 schließlich übernahmen wir mit einer Liste von Unabhängigen unter der Obhut der Sozialistischen Partei die Gemeindeverwaltung“, berichtet Javier. Vier derer, die heute das MIAU veranstalten zogen nach den Wahlen ins Rathaus ein. Die Bevölkerung hatte ihnen den Widerstand gegen die Müllhalde gedankt. Die Konservative mussten mit nur noch drei Gemeinderäte in die Opposition.
Fast alle derer, die begannen für die Umwelt auf die Straße zu gehen, sind aus Javiers Generation. Anders als er, lebten sie schon lange nicht mehr im Ort. Bereits ihre Großeltern waren in Wirtschaftsmetropolen wie Barcelona abgewandert. Doch den Kontakt nach Fanzara hatte sie nie verloren. Sie kamen mit ihrem Eltern Jahr für Jahr in den Sommerferien, zum Dorffest, an Weihnachten und Ostern. Einmal erwachsen pflegte die Enkelgeneration diese Tradition weiter. Schließlich traten sie an, Fanzara gegen die Grundstücksspekulation mittels Müllkippe zu verteidigen.
Einmal im Rathaus stoppten sie das Projekt, ihr Ziel war erreicht und vor ihnen lag eine Legislatur von vier Jahren. Was tun? Für Großes war kein Geld da. Der Vorgänger hatte einen riesigen Schuldenberg hinterlassen. „Was folgte ist eine Kette von Zufällen“, erinnert sich Javier. Eigentlich wollten sie nur preisgünstig eine hässliche Wand neben dem Rathaus und einen Fussgängertunnel unter der Durchgangsstraße verschönern. Über den Freund eines Bruders einer der Clique fragten sie bei einem „Grafitero“ auf Menorca an. Dieser kam mit seinem drei-köpfigen Kollektiv GUAU; ein paar Bierchen später entstand die Idee eines Festivals. Das MIAU war geboren.
Straßenkünstler Hombre López – nicht verwandt mit Javier – war einer der drei aus Menorca. Der 45-Jährige wurde schnell zu so etwas wie dem Festivalmanager. Einkauf der Farben, die Suche nach leeren Mineralwassergaraffen, die aufgeschnitten zum Mischen dienen, Anmietung von Gerüsten und Kränen, Workshops für Einwohner und Besucher … Hombre López macht alles und verfolgt ganz nebenbei auch noch seine eigenen künstlerischen Projekte.
Im vergangenen Jahr bemalte er die Abdeckungen der Wasserzähler neben jedem Hauseingang mit Ausdrücken des örtlichen Dialektes, einem völlig unverständliches Mischmasch für all diejenigen, die nicht dem Spanischen und der Regionalsprache Valenciano von unten an der Küste, mächtig sind. „Wasser und Sprache verbinden alle im Dorf“, sagt Hombre López. Seine Arbeit will ausgleichend wirken. Denn der Streit um die Mülldeponie und der „Machtwechsel“ im Rathaus haben den Ort völlig entzweit. Die Fronten verlaufen einmal mehr dort, wo sie bereits im spanischen Bürgerkrieg die Familien in Rote und Nationale – in Verteidiger der Republik und Anhänger des späteren Diktators Franco – spalteten.
Hombre López verrät die Kriterien, nach denen die ersten Künstler eingeladen wurden. „Sie mussten gut drauf sein, sollten etwas punky sein, um sich an alle Widrigkeiten anzupassen, etwa auf dem Boden zu schlafen …, und natürlich müssen sie malen können.“ Die aus dem vergangenen Jahr empfahlen jeweils drei Kollegen. Die Organisatoren trafen aus dieser Liste ihre Auswahl für die zweite Edition. „Würden wir alle nehmen, die empfohlen wurden, oder von sich aus angefragt haben, wären wir auf Jahre hinaus ausgebucht“, berichtet Hombre López.
Einer auf den heuer das Los fiel, ist Gonzalo Borondo. Der 25-Jährige aus Segovia 90 Kilometer nördlich von Madrid, gehört zur internationalen Elite der Straßenkünstler. Als Teenie begann er mit Tags, malte bald im Kollektiv „Keller“ und „Trauma“ in der spanischen Hauptstadt, bewegte sich in der Welt der Sozialen Zentren. Borondo ist vielgefragt. Weltweit hat er Aufträge von Städte, Gemeinden und allerlei Institutionen. Seine „normalen“ Bilder und seine Skulpturen werden in Kunstgalerien ausgestellt, zuletzt in der renommierten RexRomae Gallery in London.
„Wenn du bekannt bist, verlierst du den Kontakt zu den normalen Leuten, zur Straße, die dich eigentlich inspirieren soll. Anreise im Flugzeug, arbeiten, Abreise“, beschreibt Borondo seinen Alltag, während er durchs Dorf streicht, hier und da ein Schwätzchen hält, nackte Mauern begutachtet. Die große Welt der Kunst habe etwas von Snobismus. Hier entdecke er das „Gefühl der Freiheit“ wieder, diese Emotionen, die ihn einst antrieben, mitten in der Nacht, ohne Erlaubnis irgendeine Wand zum Kunstwerk werden zu lassen. Deshalb sagte er ohne zu zögern einen bezahlten Auftrag ab, und kam, für ein paar Bierchen, gemeinsames Abendessen mit Kollegen und Veranstaltern im Dorfsaal und einem Bett im Haus einer Familie. „Adoptiere einen Künstler“ nennen sie diese Art der Unterbringung. Es soll das MIAU fest ins örtliche, soziale Netz einbinden, Mentalitäten verändern.
Antonio Latorre (68) und Salud Nieto (56) ist eines der Ehepaare, die ihre Wohnung für die „Grafiteros“ öffnen. Javier erinnert sich noch an ihre anfänglichen Bedenken, als 2014 die ersten Künstler kamen. Die beiden wollen davon nichts mehr wissen. „Das Dorf hat durch die Kunst endlich einen Namen. Es kommen Besucher und das bringt Geld in den Ort“, schwärmt das Paar, das 18 Jahre des Arbeitslebens in Düsseldorf verbrachten.
Natürlich nennen die beiden Graffitis aus dem Vorjahr ihr eigen. An der Hausfassade hat Julieta XLF eine Art Hirsch hinterlassen. Neben der Eingangstür ist ein alter Sekretär, der drinnen den Flur ziert, sowie eine Gitarre zu sehen. Escif – so der Künstler – „kam und fragte uns nach etwas was uns wichtig ist. Das alte Möbelstück haben wir im Haus gefunden, als wir es kauften und ließen es restaurieren. Ich spiele leidenschaftlich Gitarre“, erinnert Antonio stolz. Escif malte die beiden Objekte im Rahmen seines Projektes, Privates auf die Straße zu tragen.
Ein ganz besonderes Geschenk hat Pol Marban einem der Ältesten in Fanzara, dem 90-jährige José Gascó, gemacht. Er nahm ein Familienfoto aus dem Jahr 1930, das in der Bar d’Abajo hängt, und malte es auf die Wand unterhalb des alten Waschhauses. „Der hier bin ich mit 5 Jahren“, zeigt Gascó auf einen Buben am Rande des Gemäldes. Er ist der Letzte der Verewigten, der noch lebt.
„Diejenigen, die hier zuvor das Sagen hatten, warfen den Organisatoren vor, sie würden das Dorf verschandeln“, erinnert sich der Alte an Diskussionen im vergangenen Jahr. „Es muss ja nicht jedem gefallen, aber verschandeln, bitte … Die jungen Leute wissen was sie tun“, erklärt er und meint damit die Clique der Enkel rund um Javier. Im Dorf sehen dies mittlerweile die allermeisten so. Bei den Wahlen im vergangenen Mai erhielt die offene Liste einen Gemeinderat mehr als 2011 und regiert nun mit fünf gegen eine konservative Opposition von nur noch zwei.