6. Februar 2014: Flüchtlinge versuchen schwimmend von Marokko die spanische Exklave Ceuta zu erreichen. Die Guardia Civil schießt mit Gummigeschossen und Tränengas. Schreie, Panik … Die Bilanz: 15 Tote.
Ein Jahr später wurde noch immer niemand zur Rechenschaft gezogen. Kein einziger Polizeibeamte wurde vernommen. Unterschiedliche Gerichtsinstanzen schieben die Zuständigkeit hin und her. Keine spanische Behörde hat mit den Hinterbliebenen der Opfer Kontakt aufgenommen.
„Es gibt keinen Beweis für eine Verkettung von Ursache und Wirkung“, weißt der spanische Innenminister Jorge Fernández Díaz bis heute jede Verantwortung für die Tragödie von sich. Und das obwohl Amateurfilmaufnahmen klar zeigen, was an jenem Morgen geschah. Insgesamt 250 Flüchtlinge hatten versucht die Grenze zu stürmen, viele von ihnen schwimmend. Einigen gelang trotz Gummigeschossen und Tränengas der Weg an den spanischen Strand gleich hinter dem Grenzzaun. Sie wurden sofort wieder abgeschoben. „Heiße Ausweisung“ nennen die Spanier das. Eine Praxis, die eigentlich gesetzlich verboten ist.
Es sind Flüchtlingshilfsorganisationen, die sich auf die Suche nach Überlebenden machten und deren Aussagen protokollieren. „Viele von uns konnten nicht schwimmen“, erklärt ein junger Mann von der Elfenbeinküste, der weiterhin unweit des Grenzzaunes im Wald versteckt lebt und dort auf eine zweite Chance hofft. Die Flüchtlinge hielten sich nur dank selbstgebauter Auftriebskörper über Wasser. Als sie Männer am Strand sahen, dachten sie, es sei „das Rote Kreuz oder die Polizei, die uns helfen wollen“. Doch weit gefehlt. „Sie begannen auf uns zu schießen. Nicht um uns zu erschrecken“ – wie das Innenministerium das Vorgehen der Guardia Civil verteidigt – „sondern um uns zu vertreiben“.
„Die Regierung hat im vergangenen Jahr eine Strategie entwickelt, um die Gewalt als etwas Normales erscheinen zu lassen“, beschwert sich die Sprecherin von „Caminando Fronteras“ – „Grenzwandern“ – die Migrationsforscherin Helena Maleno, die zwischen Spanien und Marokko pendelt. Immer wieder tauchen Bilder auf, wie Grenzschützer Flüchtlinge brutalst zusammengeschlagen werden, bevor sie die spanische Polizei durch eine Tür im Zaun den marokkanischen Gendarmen übergibt. Rücktritte, Strafermittlungen gibt es keine. Mittlerweile wurde ein Gesetz auf den Weg gebracht, das die direkte Abschiebung legalisieren soll.
Die konservative Regierung unter Ministerpräsident Mariano Rajoy redet immer wieder von Schleppermafien, die hinter Massenanstürmen auf den sechs Meter hohen Grenzzaun stecken sollen. Die Nachforschungen der Flüchtlingshilfsorganisationen zeigen das genaue Gegenteil.
Der Sturm auf den Zaun ist einer der letzten Wege nach Europa, der ohne Hilfe von Dritten möglich ist. Es ist die Methode der ärmsten der Armen. Über 62 Prozent der 33.913 klandestine Einwanderer, die 2014 von registriert wurden, kommen mit Linienflügen in Madrid an. Nur rund zehn Prozent kamen über die beiden nordafrikanischen Exklaven Ceuta und Melilla. Und davon wiederum kletterte nur ein Bruchteil über den Zaun. Die meisten reisten mit falschen Papieren ein. Dennoch wurden die Zäune in Ceuta und Melilla zum Symbol des Schutzes der Aussengrenze der EU.
72 Millionen Euro wurde in den vergangenen neun Jahren in die Grenzanlage investiert. Sie wurde auf sechs Meter erhöht, Natodraht angebracht, ein zweiter Zaun wurde errichtet. Dazwischen wurde ein Gewirr aus Stahlseilen installiert, das es erschwert von einem Zaun zum nächsten zu kommen. Die letzte technische Neuerung sind feinmaschige Platten am Zaun, die verhindern sollen, dass die Flüchtlinge hochklettern. Diese benutzen seither selbstgefertigte Steighilfen. Für die Regierung ist dies ein Beweis mehr für die Theorie der Mafia, die angeblich die Flüchtlinge lenkt und ausrüstet.