© 2015 Reiner Wandler

Tunesiens neue Kleider

 RWXE5375Wahlkampfveranstaltung von Nidda Tounes in Tunis, November 2014. 

Tunesien hat eine Große Koalition. Die im vergangenen Herbst bei den ersten Wahlen auf Grundlage der neuen Verfassung siegreiche, säkulare Nidaa Tounes (Der Ruf Tunesiens) und die islamistische Ennahda (Erneuerung) sowie drei kleinere, liberale Parteien einigten sich auf eine gemeinsames Kabinett unter dem 65-jährigen Unabhängigen Habib Essid. Dieser war von Staatspräsident und Nidaa Tounes Chef Béji Caïd Essebsi nach dem Sieg von Nidaa Tounes bei Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im Januar mit der Regierungsbildung beauftragt worden. Essid gilt als enger Vertrauter Essebsis. Die fünf Koalitionspartner verfügen zusammen über eine breite Parlamentsmehrheit von 179 der 217 Abgeordneten. Die Debatte imParlament geht morgen weiter.

Es ist der zweite Anlauf Essids, eine Regierung zu bilden. Die erste Kabinettsliste bestand nur aus säkularen Politikern und Unabhängigen. Sie wurde dem Parlament erst gar nicht vorgelegt, da neben der linken Opposition auch Ennahda ankündigte, mit „Nein“ zu stimmen. Eine Mehrheit im Parlament war damit mehr als fraglich. Es wurde eiligst nachverhandelt. Essid nahm einen Ennahda-Politiker als Arbeitsminister in Kabinett. Außerdem wurden zwei Islamisten als Staatssekretäre berufen. Essid sicherte sich damit die Stimmen der zweitgrößten Fraktion in der Volksversammlung.

Alt – neu, modern – traditionell, Politiker – Technikrat … wenn es um den Ministerpräsidenten Tunesiens, Habib Essid, geht, fallen alle möglichen Urteile. Der 65-jährige Landwirtschaftsspezialist ist seit gestern im Amt. „Wir haben Essid ausgewählt, weil er unabhängig ist und was von Sicherheit und Wirtschaft versteht“, begründete ein Sprecher von Nidaa Tounes, warum die Aufgabe, die Regierung zu bilden und ihr vorzustehen Essid zufiel. Jetzt soll er die Konjunktur ankurbeln, die Arbeitslosigkeit senken und die Terroristen im Landesinnere bezwingen.

Der neue Regierungschef gehört zum engen Kreis um Staatspräsidenten und Gründer von Nidaa Tounes, Béji Caïd Essebsi (88). Sie kennen sich aus alten Zeiten in der Staatspartei RCD, die nach dem Sturz des langjährigen Diktators Zine el-Abidine Ben Ali im Januar 2011 aufgelöst wurde. Essid blickt – wie sein Ziehvater auch – auf eine lange Karriere in unterschiedlichen Ministerien. Ausgebildet in Tunesien und den USA war er rechte Hand des Landwirtschaftsministers und später – von 1997 bis 2001 – Kabinettschef im Innenministerium. Es waren mit die dunkelsten Jahre der Ben-Ali-Diktatur.

Umso mehr verwunderte es, dass er nach der Revolution als Innenminister einer der Übergangsregierungen und schließlich als Sicherheitsberater der ersten frei gewählten Regierung der islamistischen Ennahda in die Politik zurückkehrte. Waren es doch die Islamisten, die unter Ben Alis harter Hand am meisten leiden mussten.

Das Kabinett besteht aus 27 Ministern und 14 Staatssekretären. Das Kabinett gibt sich betont technokratisch. Es sitzen Gewerkschafter am Tisch, aber auch ein Gründungsmitglied der tunesischen Sektion von Amnestie International. Dunkler Punkt für die Opposition sind neben Essid mehrere Minister, die ebenfalls unter Ben Ali bereits aktiv waren. Allerdings hatten sie meist keine politischen Posten, sondern gehörten dem technischen Apparat verschiedener Ministerien und regierungsnahen Organisationen an. Im Kabinett sitzen nur drei Frau als Ministerin. Fünf weitere Frauen wurden als Staatssekretärinnen berufen.

Viele der Nidaa-Tounes-Wähler sehen diesen Pakt nicht gerne, hatte ihre Partei die Ablehnung der Islamisten doch zum Wahlkampfthema gemacht. Und bei der Opposition und in der Zivilgesellschaft stösst Essid auf offene Ablehnung. „Es ist die falsche Nachricht an die Menschen, die eine echten Bruch mit dem alten Regime erwarteten“, bewertet der Chef der linken Oppositionspartei „Front Populaire“ Hamma Hammami die Wahl Essids. „Ein schlechtes Zeichen für den Übergang zur Demokratie“, beschwert sich auch der bekannte Blogger Mohamed Ali Charmi.

 

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Meine Meinung

Große Koalition 

Tunesien hat die erste Regierung auf Grundlage der neuen Verfassung. Die säkulare Nidaa Tounes, die die Wahlen im vergangenen Herbst gewann, schliesst sich mit der zweitstärksten Partei, der islamistische Ennahda zusammen. Drei kleinere, liberale Formation runden das Bild ab. Es ist eine große Koalition, die unter dem Vorzeichen Stabilität und Sicherheit stehen soll.

Doch für viele ist die Einigung zwischen Nidaa Tounes und Ennahda in erster Linie ein Pakt wider Natur. Entstand doch Nidaa Tounes eigens, um den Islamisten den Weg an die Macht zu verbauen. Jetzt nimmt das Sammelsurium aus linken, liberalen, Gewerkschafter aber auch Mitgliedern der alten Staatspartei RCD – unter ihnen der Regierungschef Habib Essid und Präsident Béji Caïd Essebsi – Ennahda an der Hand. Aussöhnung wäre ein schöne Titel für das was da geschieht.

Doch es ist mehr. Es wächst zusammen was zusammen gehört. Diejenigen, die bei Nidaa Tounes das Sagen haben, sind ebenso wie die Führer von Ennahda liberal gesinnt, nicht was die Politik angeht, aber sehr wohl in der Wirtschaft. Die kleineren Koalitionspartei kommen meist aus Unternehmerkreisen.

Die Koalition scheint übermächtig. Doch sicher wird sie nicht so stabil sein, wie es die Parlamentsmehrheit auf den ersten Blick glauben macht. Ennahda wird versuchen erneut an Popularität zu gewinnen. Und beide großen Partner werden mit inneren Debatten zu kämpfen haben. Zu lange wurde der jeweilige Andere der Basis als Erzfeind verkauft.

Mittelfristig könnte diese Koalition eine neue Ordnung in Tunesiens Parteiensystem schaffen. Denn viele Linke und Gewerkschafter, die Nidaa Tounes als Garant für ein weltlich, modernes Tunesien beigetreten sind, oder die Partei an den Urnen unterstützt haben, dürften sich schon bald umorientieren. Bleibt zu hoffen, dass die linke Opposition und die Zivilgesellschaft die Chance zu nutzten wissen, und in den kommenden Jahren einen starken Gegenpol schafft.

Was bisher geschah: