© 2014 Reiner Wandler

Herber Schlag für Islamisten

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Umfragen an den Wahllokalen und erste Teilergebnisse genügten. Der Chef der tunesischen Islamistenpartei Ennahda (Erneuerung), Rachid Ghannouchi, akzeptierte am Montag Abend die Niederlage seiner Partei. Er griff zum Telefon und gratulierte seinem Kollegen bei der säkularen Nidaa Tounes (Ruf Tunesiens), Béji Caïd Essebsi, zum Wahlsieg.

Ennahda, die 2011 nach dem Sturz des Diktators Ben Ali, bei den ersten freien Wahlen des Landes zur Verfassungsgebenden Versammlung mit 37 Prozent und 89 Abgeordneten als stärkste Partei hervorging, hat – so noch nicht offiziell bestätigte Ergebnisse, die mittlerweile von der türkischen Nachrichtenagentur Anadolu veröffentlicht wurden – jetzt nur noch 31,3 Prozent und 68 Sitze, Nidaa Tounes liege mit 38,2 Prozent bei 83 Abgeordneten. Auf Platz 3 gelangte die von einem reichen Geschäftsmann gegründete UPL mit 17 Abgeordneten (7,8 Prozent) und dahinter die kommunistsch beeinflusste Volksfront mit 12 Sitzen (5,6 Prozent). Insgesamt besteht das tunesische Parlament aus 217 Abgeordneten.

Die Wähler straften Ennahda damit für ihre Regierungsarbeit ab. Denn die Ausarbeitung der neuen Verfassung dauerte mehr als doppelt so lange wie geplant. Zwei Morde an linken Oppositionspolitikern 2013 und die darauf folgenden Massenproteste brachten den Übergang zur Demokratie fast zum Scheitern. Letztendlich waren es die Gewerkschaft UGTT, der Anwaltsverein, die Menschenrechtsvereinigung sowie der Unternehmerverband, die einen Nationalen Dialog zwischen allen Kräften ins Leben riefen. Ennahda zog sich aus der Regierung zurück. Ein Technokratenkabinett führt das Land seit Dezember 2013 zum Ende der Verfassungsdebatte und zu den Wahlen.

„Wir haben gewonnen. Es lebe Tunesien“, prangt seit Montag Abend auf der Facebookseite von Nidaa Tounes. Die siegreiche Partei entstand erst vor zwei Jahren. Es ist ein Sammelsurium aus Liberalen, Sozialdemokraten, Gewerkschafter, aber auch ehemalige Mitglieder der nach der Revolution aufgelösten tunesischen Einheitspartei RCD. Sie alle verbindet der Wille, den Islamisten den Weg an die Macht zu verbauen. Das ist ihnen gelungen.

Der 87-jährige Parteichef Essebsi gilt als unumstrittener Favorit bei den bevorstehenden Präsidentschaftswahlen am 23. November. Die islamistische Ennahda stellt keinen Kandidaten für das Amt des Staatschefs. Essebsi war nach dem Sturz Ben Alis Übergangspremier und in den ersten Jahren nach der tunesischen Unabhängigkeit Minister.

Mit über 80 Sitzen ist Nidaa Tounes weit von einer Mehrheit im 217 Abgeordneten starken Parlament entfernt. Ennahda bringt sich geschickt als Koalitionspartner ins Gespräch. „Es ist egal, wer erster und wer zweiter ist, Nidaa oder Ennahda. Das Wichtige ist, dass Tunesien eine Regierung der nationalen Einheit braucht, eine Politik des Konsenses“, erklärte der Islamistenschef Ghannouchi noch in der Wahlnacht. Das würde Tunesien von den Nachbarländer, wo der arabische Frühling in Gewalt und Chaos endete, unterscheiden, mahnte er.

Bei Nidaa Tounes will so weit niemand gehen. Denn noch stehen die Präsidentschaftswahlen bevor. Solange diese nicht gewonnen sind – und das wird, sollte ein zweiter Wahlgang notwendig werden – nicht vor dem 28. Dezember der Fall sein, wird es keine ernsthafte Koalitionszusagen geben. Neben einer großen Koalition mit der Ennahda, sympathisieren viele bei Nidaa Tounes mit der Idee einer rein-säkularen, Mitte-Links-Koalition. Doch dazu müssten mehrere Partner an Bord geholt werden. Das macht Verhandlungen nicht leichter.

Auch bei Ennahda sind bei weitem nicht alle von einer Nationalen Einheit begeistert. „Nidaa Tounes wird von Menschen aus dem alten Regime gemacht. Für ein Land wie Tunesien, das den arabischen Frühling ausgelöst ist wirklich sehr traurig, dass es so enden muss. Das sind Menschen, die bereits einmal die Zügel in der Hand hatten, und wir haben gesehen, was passiert ist“, erklärt Teycir Ben Salem, Vorstandsmitglied und Sprecher der Ennahda-Jugend im Radio.

 

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Meine Meinung

Tunesien siegt

Tunesien bleibt Vorbild. Anders als Ägypten – um vom Nachbarn Libyen ganz zu schweigen – geht das Geburtsland des arabischen Frühlings seinen Weg zur Demokratie mit sicherem, ruhigem Schritt. Am Sonntag wählten die Tunesier ihr erstes Parlament auf Grundlage der neuen Verfassung. Nach den Wahlen zur Verfassungsgebenden Versammlung 2011 waren es die zweiten freien Wahlen im nordafrikanischen Land.

Und es ist das erste Mal, dass die politische Mehrheit im Lande wechselt, friedlich, per Stimmzettel. Die Islamisten von Ennahda, die vor drei Jahren stärkste Partei wurden, mussten sich von den Wählern für ihre Regierungsarbeit abstrafen lassen. Mit Nidaa Tounes gewann eine säkulare Kraft die Wahlen. Ennahda gratuliert artig den Gewinnern, noch bevor das vorläufige Wahlergebnis vorliegt.

Tunesien ist anders, nicht zuletzt, weil es eine gut artikulierte Zivilgesellschaft hat. Deren Kern bildet – in Zeiten neoliberaler Politik mag dies viele verwundern – die mächtige Gewerkschaftszentrale UGTT. Dass Tunesien trotz zweier politischer Morde 2013 nicht im Chaos versank, dass die damals regierende Ennahda den Regierungspalast einem Technokratenkabinett räumte, und dass die neue Verfassung dann zügig fertiggestellt wurde, all das geht auf die Arbeit der Gewerkschaft zurück. Sie verstand es den notwendigen Druck aufzubauen, um alle politische Kräfte zu einem Nationalen Dialog für einen geordneten Übergangs zur Demokratie zu bewegen. Bereits während der Proteste, die schließlich am 14. Januar 2011 zum Sturz der Diktatur Ben Alis führte, hatte sich die UGTT schützend hinter die demonstrierende Jugend gestellt.

Hinzu kommt eine politische Klasse, die nie ganz vergessen hat, dass unter Ben Ali alle gemeinsam von den gleichen Richtern in die gleichen Gefängnisse gesteckt wurden. Auch in Zeiten hitzigster Diskussionen – und an denen fehlte es in den vergangenen drei Jahren nicht – rissen die Kontakte zwischen Islamisten und säkularen Politikern nie völlig ab. Der politische Gegner wurde so nur in den seltensten Fällen zum politischen Feind. Das ist nicht die schlechteste Grundlage für eine heranwachsende Demokratie.

Was bisher geschah: