© 2014 Reiner Wandler

An die Urnen

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Das Geburtsland des arabischen Frühlings schickt sich an, den Übergang zur Demokratie endgültig zu besiegeln. Mehr als drei Jahre nach dem Sturz des langjährigen Diktators Zine al Abidine Ben Ali werden die Tunesier am kommenden Sonntag ein Parlament wählen. Am 23. November sind die Menschen des nordafrikanischen Landes erneut an die Urnen gerufen. Dann geht es darum, den Staatspräsidenten zu bestimmen. Es sind die ersten Wahlen auf Grundlagen der neuen Verfassung, die im Januar von der Konstituierenden Versammlung verabschiedet wurde.

Es war ein langer Weg bis hierher. Ursprünglich sollte die neue Verfassung von der am 23. Oktober 2011 gewählten Verfassungsgebenden Versammlung in nur einem Jahr ausgearbeitet werden. Doch die Debatten um das Grundgesetz zogen sich in die Länge. Zwei Morde an linken Oppositionspolitikern im Februar und Juli 2013 brachten das Land an den Rand des Abgrundes. Hunderttausende gingen gegen die Regierung der islamistischen Ennahda auf die Straße. Das Innenministerium würde zu wenig gegen radikale, gewaltätige Salafisten unternehmen, erklärten die Protestierenden. Doe Presse deckte gar Verbindungen von Ennahda-Abgeordneten zu salafistischen Gruppen auf.

Die Proteste drohten den Übergang zur Demokratie vollständig zu blockieren. Letztendlich waren es die mächtige Gewerkschaft UGTT, der Anwaltsverein, die Menschenrechtsvereinigung sowie der Unternehmerverband, die einen Nationalen Dialog zwischen allen Kräften ins Leben riefen, und vermittelnd wirkten. Ennahda zog sich aus der Regierung zurück. Ein Technokratenkabinett wurde im Dezember 2013 vereidigt. Nur wenige Wochen später konnte die Verfassung verabschiedet, der Wahlprozess in Angriff genommen werden.

Wie bereits 2011 stellen sich über 1300 Listen in den insgesamt 33 Wahlkreisen, sechs davon im Ausland, zur Wahl. Im Schnitt kommen damit 72 Kandidaten auf jeden der 217 Parlamentssitz. Um das Amt des Staatspräsidenten bewerben sich 70 Kandidaten.

Doch anders als vor drei Jahren haben sich die wichtigsten politischen Lager geeinigt. Mehrere Bündnisse sind entstanden. Die islamistsche Ennahda, die 2011 die einzige bekannte und gutorganisierte Partei war und mit 37 Prozent der Stimmen die Wahl gewann, hat ernsthafte Gegner bekommen. Am kommenden Sonntag wird es einmal mehr um den Konflikt zwischen Islamisten und säkularen Kräfte gehen, der die gesamte Übergangsphase in Tunesien geprägt hat.

Ennahda steckt in der Krise. Neue Gesichter sollen die umstrittene Regierungsarbeit vergessen machen. Knapp zwei Drittel der bisherigen 89 Abgeordneten der Islamisten treten nicht zur Wiederwahl an. Die Islamisten verfügen über eine breite Basis, gute Strukturen und viel Geld. Ihr Wahlkampf stützt sich neben Großveranstaltungen auf eine Kampagne, bei der Tür für Tür um Stimmen geworben wird. Zu den Präsidentschaftswahlen im November stellt Ennahda keinen eigenen Kandidaten.

Mit Nidaa Tounes (Der Ruf Tunesiens) steht den Islamisten dieses Mal eine starke säkulare Kraft gegenüber. Es ist die Partei rund um den betagten ehemaligen Übergangspremier und Minister in den ersten Jahren der Unabhängigkeit, Béji Caïd Essebsi, der als Favorit für das Amt des Staatspräsidenten gilt. Der 88-Jährige hat Liberale, Sozialdemokraten, Gewerkschafter, aber auch ehemalige Mitglieder der nach der Revolution aufgelösten tunesischen Einheitspartei RCD um sich gescharrt. Sie alle verbindet der Wille, den Islamisten den Weg an die Macht zu verbauen und die tunesische Politik und Wirtschaft zu stabilisieren.

Wie Ennahda auch, geht Nidaa Tounes gezielt in den armen Vororten und im Landesinnere auf Stimmenfang. Die Partei verspricht wirtschaftliche Reformen und den Aufschwung. Etwas, was Tunesien dringend braucht. Ein Drittel der Jugend ist ohne Arbeit. Viele davon sind gut gebildet. Die Verzweiflung in den armen Stadtteilen und im vernachlässigten Landesinneren ist ein Nährboden für radikale Strömungen. Zwischen 2500 und 3000 Tunesier sollen sich den radikalen islamistische Milizen in Syrien und Libyen angeschlossen haben. Seit mehr als einem Jahr bekriegen sich bewaffnete Gruppen an der Grenze zu Algerien mit der tunesischen Armee und Gendamerie.

Links von Nidaa Tounes streiten sich zwei weitere Blöcke, die Republikanische Partei, ein Bündnis rund um den Sozialdemokraten Ahmed Nejib Chebbi, sowie die Volksfront, ein Zusammenschluss unterschiedlicher linker Kräfte um den Kommunisten Hamma Hammami um den dritten Platz im künftigen tunesischen Parlament.

Das größte Problem, dem die säkularen Parteien gegenüberstehen, ist die Wahlbeteiligung. Nur 5,2 Millionen, der auf über acht Millionen geschätzten Wahlberechtigten, haben sich in das Wahlregister eintragen lassen. Das sind rund eine Million mehr als bei den ersten freien Wahlen 2011. Damals fand nur etwas mehr als die Hälfte der Volljährigen den Weg an die Urnen. Das stärkte die gutorganisierte Ennahda, deren Basis diszipliniert zu den Wahlen ging.

Was bisher geschah: