© 2014 Reiner Wandler

Brot und Würde

L1222211

Alejandro Riega und Veronica Aversa sind sichtbar müde aber glücklich. Drei Wochen waren sie mit einer der acht Säulen der „Märsche für die Würde“ zu Fuss vom äußersten Nordwesten Spaniens nach Madrid unterwegs. Am Samstag morgen trafen die Marschierenden aus allen Regionen Spaniens im Zentrum der spanischen Hauptstadt ein. Sonderzüge und rund 1.000 Buse aus dem ganzen Land brachten weitere Demonstranten in die Stadt. Hunderttausende schlossen sich ihnen dort am Nachmittag an. Unter dem Motto „Nein zur Zahlung der Schulden! Keine weiteren Kürzungen! Schluss mit der Regierung der Troika! Brot, Arbeit und ein Dach über dem Kopf für alle!“ erlebte Madrid eine der größten Proteste seit das Land vor sechs Jahren in der Krise versank.

„Das kann so nicht weitergehen. Als ich klein war, erzählten man mir: Lern was und arbeite, so wirst du es zu etwas bringen. Jetzt bin ich seit vier Jahren arbeitslos und lebe wieder bei meinen Eltern. Alles ist eine riesige Lüge“, sagt der 31-jährige Riega. Er ist Koch. „Das neue Arbeitsrecht, der konservativen Regierung vernichtet immer mehr Arbeitsplätze und hat zu extremen Lohnsenkungen geführt“, beschwert er sich. In seinem letzten Job verdiente er 1.200 Euro im Monat. „Wer heute als Koch noch etwas findet, bekommt 600 bis 700 Euro“, weiß Riega.

Mitmarschiererin Aversa hat Arbeit. Sie betreut eine alte Frau und jobbt am Wochenende in einer Kneipe. „Ich komme damit gerade so über die Runde“, erzählt sie. Die 33-jährige Philologin ist weder sozialversichert, noch hat sie Recht auf Arbeitslosenunterstützung, sollte sie ihre prekären Jobs verlieren. „Es kann so nicht weitergehen“, schimpft sie und redet von den sechs Millionen Arbeitslosen von den Hunderttausenden, zwangsgeräumten Wohnungen. „Ich hoffe, dass wir einen Wandel erreichen“, sagt sie und zieht weiter.

Über 200 Organisationen, Parteien und Gewerkschaften aus ganz Spanien hatten zu den Märschen und der Großdemonstration in Madrid mobilisiert. Es war ein bunter Marsch mit Musik und Regionalflaggen aus allen Landesteilen. Alle von der Kürzungspolitik Betroffenen waren gekommen: Lehrer gegen Stellenabbau im Schulsystem, Personal aus dem Gesundheitswesen gegen die Privatisierung der Krankenhäuser, die von der Zwangsräumung ihrer Wohnung Betroffenen, Arbeitslose, Schüler und Studenten gegen die Streichung von Stipendien … Alle vereinte der Ruf „Ja, man kann!“. Es ist die Parole der Bewegung gegen Wohnungsräumungen, die immer wieder verhindert, dass Gerichtsvollzieher und Polizei die Räumung vollstrecken können. Längst ist es zum Motto jeglichen sozialen Widerstandes geworden.

„Für die große Mehrheit der Gesellschaft ist diese Krise, dieser Betrug, ein großes Drama“, heisst es im Manifest, das von einem Schauspieler und einer Journalistin auf dem zentralen Plaza de Colón verlesen wurde. Am 2,5 Kilometer entfernten Ausgangspunkt der Demonstrationsroute waren immer noch nicht alle losgelaufen.

Das Innenministerium hatte auf den großen Zufahrtsstraßen rund um Madrid Polizeisperren errichtet. Über ein hundert Buse wurden mehrere Stunden aufgehalten. In der Stadt selbst waren 1.650 Polizisten der Sondereinsatzkommandos zusammengezogen worden. Der Präsident der Madrider Regionalregierung Ignacio González heizte die Stimmung im Vorfeld der Märsche auf. Er verglich die Demonstranten und ihre Forderungen mit den griechischen Faschisten der „Goldenen Morgenröte“. „Die Organisatoren spielen mit dem Feuer“, warnte er.

Gegen Ende der bis dahin völlig friedlichen Demonstration kam es zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen meist jungen Demonstranten und der Polizei. Nach offiziellen Angaben wurden dabei 67 Polizisten und 34 Demonstranten verletzt. Ein Pressefotograf wurde ins Krankenhaus eingeliefert. 29 Demonstranten wurden festgenommen.

 

*****

Meine Meinung

Kein Bock auf Schuldenzahlung

Ein Ruf wird lauter in Spanien. Die von der Austeritätspolitik Betroffenen wollen die Staatsschulden nicht mehr bezahlen.

Die Logik, die hinter dieser Forderung ist einfach. Die großen europäischen Banken haben mitgezockt, als in Spanien eine Immobilienblase riesige Gewinne versprach. Vor allem aus Deutschland und aus Frankreich kamen Milliarden, um die Spirale in der Bauwirtschaft anzuheizen. Die Baukorruption erfasste die gesamte Politik. Unnütze Staatsprojekte sorgten ebenso wie der Wohnungsbau für riesige Gewinne der Bauindustrie und der Banken.

Geschicktes Marketing zog die Menschen in den Bann eines – so schien es – nicht enden wollenden Monopolys, bei dem alle mitverdienen würden. Wohnungspreise sinken nicht, hieß das Mantra. Jetzt wo sich dies als falsch erwiesen hat und die Banken auf den faulen Krediten sitzen bleiben, zahlen die Bürger. Die Verfassung wurde geändert, damit Schuldenzahlung Vorrang vor Sozialausgaben hat.

Die Beamten mussten Gehaltseinbusen hinnehmen, die Arbeitslosen bekommen keine Stütze mehr, wenn ihr Anspruch nach – je nach dem ehemaligen Beschäftigungsverhältnis – nach ein bis zwei Jahren ausläuft. Studiengebühren steigen, Stipendien wurden gestrichen. Im Bildungs- und Gesundheitswesen wird gespart und privatisiert. Und während die Banken gerettet werden, fliegen die Menschen, die unter ihrer Schuldenlast ersticken aus ihren Wohnungen.

Wenn wundert es da, dass der Ruf nach einen Stopp der Schuldenzahlung als Lösung des sozialen Dramas, das Spanien durchlebt, immer populärer wird?

Was bisher geschah: