Am Zeitungskiosk spielt sich jeden Morgen die gleiche Szene ab. Wir – eine Reihe von frühaufstehenden Stammkunden – lassen unsere Blicke über die Schlagzeilen schweifen. Die Anhänger des konservativen Wahlsiegers Mariano Rajoy auf der verzweifelten Suche nach der wirtschaftspolitischen Zauberformel, die anderen aus Furcht vor bevorstehenden, noch härteren Sparmaßnahmen. Wir werden nicht fündig.
Es ist still in Spanien, zu still. Rajoy ist seit seinem Wahlsieg am 20. November völlig aus dem öffentlichen Leben verschwunden. Nach einem Wahlkampf, in dem er sich strikt weigerte über konkrete Maßnahmen zur Krisenbewältigung zu reden, schweigt er jetzt völlig. Es ist nicht einmal klar, wer unter ihm als Minister dienen wird. Und auch der abgewählte aber sich noch im Amt befindliche Regierungschef José Luis Rodríguez Zapatero ist „missing“, wie das im Umgangssprachlichen Spanisch heißt. Es macht sich der Eindruck breit, dass das Land ohne Steuermann durch die Krise trudelt.
Wir lesen, dass sich Rajoy mit engen Vertrauten, mit der EU-Kommission, mit Bankern, Unternehmern und Gewerkschaften trifft. Doch was dort besprochen wurde, weiß keine Zeitung egal welcher Couleur zu berichten. Seit seinem Wahlsieg ist Rajoy genau zweimal vor der Presse erschienen, um das Wahlergebnis zu feiern – Fragen waren keine erlaubt.
Der Karikaturist der fortschrittlichen Tageszeitung El Público spricht aus, was viele Spanier mittlerweile glauben. „Ich darf nicht reden. Zuerst muss ich mich mit dem König und mit Merkozy treffen“, legt er Rajoy in den Mund. „Das ist wohl so“, sind wir uns am Zeitungskiosk ausnahmsweise einmal über alle Parteigrenzen hinweg einig.
Derweilen kommentieren wir am Kiosk das Steigen der Risikozuschläge für spanische Staatsanleihen und die neuen Arbeitslosenzahl. Wir debattieren über Sinn und Unsinn ständig neuer Kürzungen der Regionalregierungen. Lesen Nachrichten über Gemeinden, die die Stadtreinigung einstellen, weil sie ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen können. Oder wir kommentieren die neuesten Ideen von „La Merkel“. „Was wird aus dem Ersparten, falls der Euro zusammenbricht?“ lautete eine der Hauptsorgen. „Du verdienst dein Geld in Deutschland, du brauchst dir um den Euro keine Sorgen machen“, beneidet mich so mancher.
In den Gesprächen ist die Angst vor der Zukunft deutlich zu spüren. Keiner in Spanien zweifelt daran, dass es neue, noch schwerwiegendere Einschnitte in das Sozialsystem geben wird. Doch wen wird es treffen? Werden die Renten eingefroren? Werden die Beamtengehälter weiter gekürzt? Müssen wir künftig beim Arzt und Krankenhausbesuch zuzahlen?
Vergangenen Donnerstag brach Rajoy plötzlich sein Schweigen – auf Twitter. „Nach der Sitzung mit Gewerkschaften und Unternehmern, wir arbeiten an einer Reform des Arbeitsmarktes. Ziel Arbeitsplätze schaffen. MR“, stand da kurz und knapp zu lesen. Das Rätselraten geht sicher auch morgen früh weiter.