© 2007 Reiner Wandler

Schweres Erinnern

32 Jahre nach dem Tod von General Francisco Franco ist der Bürgerkrieg und die anschließende fast vierzigjährige Diktatur zurück in der politischen Aktualität Spaniens. Der sozialistische Regierungschef José Luis Rodríguez Zapatero erhielt jetzt die Mehrheit im Parlament für das wichtigste Vorhaben seiner Legislatur, dem Gesetz zum Historischen Gedenken.

Zapatero, dessen Großvater als Offizier bei der Verteidigung der spanischen Republik sein Leben ließ, will Schluss machen mit dem Schweigen und Vergessen der Opfer. Doch genau das reißt alte Wunden wieder auf. So manchem auf der Linken geht es nicht weit genug. Die Konservativen stimmten dagegen, die Kirche äußert Kritik, und die Ultrarechte mobilisiert anläßlich des heutigen Todestages Francos einmal mehr ihre Anhänger in das Valle de los Caídos, wo der Diktator beerdigt liegt (siehe Foto). Einige zaghafte Stimmen fragen angesichts der sich verschärfenden Debatte, wofür so ein Gesetz denn notwendig ist.

Emilio Silva ist einer von denen, der viel Hoffnung in das Paragrafenwerk gesetzt hat. Jahrelang hat der Vorsitzende der „Vereinigung zur Wiedererlangung der historischen Erinnerung“ (ARMH) für ein Gesetz zum Gedenken an die Opfer von Bürgerkrieg und Diktatur gestritten. Jetzt ist er innerlich gespalten. Das von den regierenden Sozialisten zusammen mit kleinen linken und nationalistischen Parteien verabschiedete Paragrafenwerk, greift ihm zu kurz. „Es ist viel zu abstrakt“, beschwert sich Silva.

Die Diktatur werde zwar verurteilt und alle repressiven Gesetze und Urteile aus der Zeit annulliert. Auch sollen alle franquistischen Symbole aus der Öffentlichkeit verschwinden. Aber das reicht Silva, der in einem der zahlreichen Einfamilienhaussiedlungen vor den Toren Madrids lebt, nicht. „Keiner spricht vom Vermögen der Verfolgten. Sie wurden meist vom Staat enteignet. Jetzt muss sie der Staat entschädigen“, sagt der Fernsehjournalist. Silva und seine ARMH suchen die Spuren der spanischen Tragödie in den Straßengräben des Landes in Form von Massengräbern. „Im Bürgerkrieg und den Monaten danach wurden Demokraten, Linke und Gewerkschafter abgeführt, erschossen und einfach verscharrt“, berichtet Silva.

Die Hinterbliebenen scheinen oft zu wissen, wo die standesrechtlichen Erschießungen stattfanden. Am Totensonntag tauchen überall in Spanien an den Straßen Blumensträuße auf, niedergelegt von Angehörigen. „Doch die Angst hat sich in den vierzig Jahren Diktatur so tief festgesetzt, dass viele selbst heute die Gräber nicht öffnen wollen“, so Silva. Trotz „der erheblichen Mängel des Gesetzes“ erhofft sich Silva jetzt eine stärkere Unterstützung für die Arbeit der ARMH.
Auch seine Familie trauerte bislang am Straßengraben um den Großvater. Im Sommer 2000 griffen Silva und ein Onkel dann zum Spaten. Dreizehn Leichen wurden exhumiert. Jetzt ruht der Großvater auf dem Friedhof. Silva veröffentlichte eine Reportage über die Geschichte mit seinem Großvater – „ein spanischer Verschwundener“. Spontan meldeten sich von überall im Lande Familien mit ähnlicher Vergangenheit. Die ARMH war geboren.

67 Massengräber wurden seither geöffnet. Doch die Aufgabe ist zu groß, um von einer Gruppe Freiwilliger bewältigt zu werden. Keiner weiß wie viele Massengräber es im Lande gibt. Eine erste wissenschaftliche Untersuchung aus Andalusien spricht von 40.000 Verschwundenen allein in der südspanischen Region. Dort leben etwa 20 Prozent der spanischen Bevölkerung, insgesamt dürfte also mindestens 200.000 Franco-Gegner dieses Schicksal ereilt haben.
Doch das ist nur ein Teil des spanischen Dramas. 150.000 Menschen starben in drei Jahren Bürgerkrieg. 400.000 flohen nach dem Sieg der aufständischen Faschisten unter General Franco ins Ausland. Und eine Million machte mit den Arbeitslagern und Gefängnissen der Diktatur Bekanntschaft.

Gervasio Puerta hat vieles davon miterlebt. Mit fünfzehn Jahren zog er zur Verteidigung der Republik in den Krieg. An der Front verlor er seinen Vater. Allein floh er nach Frankreich. 1943 kam er illegal nach Madrid zurück, um „die kommunistische Jugend wieder aufzubauen“. Dies erzählt der mittlerweile 86-Jährige, der als Pensionist heute in einer Einfamilienhaussiedlung einer linken Wohnungsbaukooperative in einem Madrider Vorort lebt, nicht ohne Stolz.
Puerta wurde früh geschnappt und wanderte für vier Jahre hinter Gitter. Kaum aus dem Gefängnis, schloss er sich erneut dem antifranquistischen Untergrund an und gehörte zur Führung der illegalen Kommunistischen Partei. 1961 wurde er abermals verhaftet. Vier Jahre sollten es dieses Mal werden.

„Zweihundert politische Gefangene waren wir damals allein im Gefängnis von Burgos“, erzählt Puerta und kramt ein Gruppenfoto heraus, aufgenommen im Hof der Haftanstalt. Dann sagt er leise: „Für viele kommt das Gesetz zum historischen Gedenken zu spät. Nur dreißig leben noch.“

Puerta ist Vorsitzender der Vereinigung ehemaliger Politischer Gefangenen. Das Gesetz stimmt den Alten milde. Den Verlauf der Transición – des Übergangs Spaniens zur Demokratie – fand er zuvor unbefriedigend: „Die Schergen von damals wurden nie zur Rechenschaft gezogen.“ Das würde auch jetzt nicht geschehen. Doch das „vom Feind diktierte Schweigen und Vergessen“ habe ein Ende. „Jetzt wird endlich ganz offiziell jenen gedacht, die wie ich zum Opfer der Diktatur wurden.“

Auch wenn Puerta dies nicht gerne hört: Schweigen und Vergessen war bislang Konsenses aller politischer Kräfte, seiner Kommunisten inbegriffen. Es sollte nach Francos Tod 1975 den Weg zur Demokratie ebnen.
Dabei sei „das historische Gedenken für die Identität einer Nation von zentraler Bedeutung“, sagt Pedro García Bilbao, 36 Jahre alt und Soziologieprofessor an der Universität Juan Carlos I. in Madrid. Nur so lasse sich aus den Fehlern der Vergangenheit lernen.

Was logisch klingt, wird längst nicht von allen geteilt. „Was ist das historische Gedenken?“ fragt der 67-jährige Geschichtsprofessor der spanischen Fernuniversität Santos Juliá. „Ist es ein verlorener Schatz, der wiedergefunden werden muss? Und warum sprechen wir immer im Singular? Ist es ein und dasselbe Gedenken für alle?“ Juliá, der der Sozialistischen Partei von Regierungschef Zapatero nahe steht, war von Anfang an gegen den jetzigen Gesetzentwurf.

Er fordert stattdessen mehr Mittel für Forschung und historische Bibliotheken. So könne jeder sein eigenes Schicksal aufarbeiten. „Ein Gesetz für ein einheitliches, von oben angeordnetes historisches Gedenken, wozu? Die Erinnerungen sind sehr vielfältig und konfliktbeladen“, warnte er.

Das Gesetz geriet tatsächlich schnell ins Kreuzfeuer der zwei großen politischen Lager. Der konservative Partido Popular (PP) stimmte gegen das Werk. „Warum soll ich etwas verurteilen, was viele Familien als völlig normal und natürlich erlebt haben?“, fragte der PP-Europaabgeordnete Jaime Mayor Oreja provokativ in einem Rundfunkinterview. Der Franquismus repräsentiere „einen breiten Teil der spanischen Bevölkerung“.

Die spanische Bischofskonferenz zählt ebenfalls dazu. „Das Gesetz reißt alte Wunden wieder auf“, warnte die Kirchenführung und kündigte am selben Tag, an dem das Gesetz von der Regierung vorgestellt wurde, die Seeligsprechung von 498 Märtyrer – im Bürgerkrieg von Republikanern ermordete Geistliche – an. „Jeder gedenkt der Seinen, so auch wir“, erklärt der Vorsitzende der Bischofskonferenz Ricardo Blázquez trotzig. Die über 20.000 Märtyrer aus dem Bürgerkrieg sind dem 65-Jährigen „ein Vorbild für die Gläubigen von heute“.

Geistlichen, die auf der Seite der Republik standen und von Francos Anhängern ermordet wurde, sollen allerdings nicht selig gesprochen werden. Die Kirche stand hinter dem Putsch der Generäle und bezieht auch jetzt wieder Position.
„Wir müssen endlich aufhören nur einer Seite zu gedenken. Im Bürgerkrieg wurde auf beiden Seiten gemordet“, entgegnet Enrique Miret Magdalena solchen Positionen. Der 93-jährige Theologe zählt zu den wohl kritischsten Geistern unter Spaniens Katholiken. Er verbrachte während des Bürgerkriegs zwei Jahre und neun Tage im Keller der paraguayischen Botschaft in Madrid. Als junger Jesuit fürchtete er ausgerechnet die republikanische Seite, der er sich bis heute verbunden fühlt. Magdalena plädiert dafür, „nicht zu vergessen, was geschah, und aus den Ungerechtigkeiten beider Lagern zu lernen“.

Was bisher geschah: