Was sich in Spanien abspielt, ist der Stoff aus dem Hollywood üblicherweise Filme macht: Starrichter Baltasar Garzón, der durch sein Verfahren gegen Chiles Diktator Augusto Pinochet zu internationaler Anerkennung gelangte, wird zum Gejagten. Alle haben sich vereint. Gegen Garzón klagen Vertreter der regierenden Volkspartei (PP) sowie rechtsradikale, der Franco-Diktatur verpflichtete Organisationen. Einer der verhandelnden Richter ist eng mit ehemaligen Ministern der sozialistischen Regierung von Felipe González befreundet, die sich mehreren Verfahren wegen des schmutzigen Krieges gegen baskische Separatisten in den 1980er Jahren ausgesetzt sah. Ein standhafter Jurist soll in einem Geflecht aus Korruption, Macht und alten Seilschaften erstickt werden.
Garzón, der 2011, nach 22 Jahren an der Audiencia Nacional, dem obersten Strafgerichtshof Spaniens, vom Dienst suspendiert wurde, muss sich ab kommenden Dienstag (24.1.12) gegen den Vorwurf der „Rechtsbeugung“ verteidigen. Er hatte es gewagt, trotz einer Amnestie von 1977, eine Anzeige der Opfer des spanischen Bürgerkrieges in den 1930er Jahren und der anschließenden Diktatur von General Francisco Franco anzunehmen. Mindestens 112.000 Menschen wurden damals verschwinden lassen, 30.000 Kinder wurden ihren Eltern weggenommen, um sie an regimetreue Familien zu geben. Garzón sah darin ein „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. Solche sind nach internationaler Rechtsauffassung nicht amnestierbar und verjähren nie.
Garzón wurde dennoch von höheren Instanzen gezwungen, die Ermittlungen ruhen zu lassen. 20 Jahre Berufsverbot drohen ihm nun für seinen Mut. Die Kläger, die das Verfahren gegen den Richter ins Rollen brachte, sind drei faschistische Organisationen – darunter die Franco-Partei Falange.
Wie um sicher zu gehen, dass der unbequeme Richter ja nicht entwischt, wurde bereits heute (17.1.12) ein weiterer Prozess gegen Garzón eröffnet. Wegen eines angeblichen Verfahrensfehlers im größten Korruptionsverfahren des Landes, gegen hohe Vertreter der konservativen Volkspartei (PP) des seit wenigen Wochen regierenden Ministerpräsidenten Mariano Rajoy fordern die Kläger ebenfalls Berufsverbot. Garzón hatte angeordnet Gespräche der hochrangigen Untersuchungshäftlinge mit ihren zum Teil ebenfalls imvolvierten Anwälte abzuhören, um zu verhindern, dass Beweise vernichtet und Konten geräumt werden. Obwohl Staatsanwaltschaft und andere Ermittlungsrichter dies als gültig ansehen, wird Garzón auch hier „Rechtsbeugung“ vorgeworfen. Die geforderte Strafe: 17 Jahre Berufsverbot.
„Der Fall Garzón ist eine ganz klare Verfolgung mit dem Einverständnis der beiden großen Parteien“, ist sich Emilio Silva, einer der Sprecher der Plattform gegen die Straffreiheit für die Verbrechen des Franco-Regimes, sicher. Wie zahlreiche Intellektuelle und Künstler, darunter Filmemacher Pedro Almodóvar, die Garzón unterstützen, kann er nicht verstehen, dass in „Spanien bis heute kein einziger Richter, kein einziger Militär“ zur Rechenschaft gezogen wurde. Die Gerichtsweg blieb verschlossen. Ein Amnestiegesetz von 1977 nahm die Verbrechen von der Strafverfolgung aus.
Bis Garzón 2006 eine Sammelklage in die Hände bekam. Er wandte die gleichen Rechtsauffassung an, wie bereits 1998, als er einen internationalen Haftbefehl gegen den mittlerweile verstorbenen chilenischen Diktator Augusto Pinochet eerwirkte. Garzón sieht im Verschwindenlassen Zehntausender ein „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ egal ob in Chile oder zu Hause in Spanien. „Mich erstaunt dieser Widerstand anzuerkennen, dass hier ein Regime an der Macht war, dass die grundlegendsten Rechte nicht respektiert“, erklärte Garzón angesichts der Verfahren, als er vor einem Jahr Vertreter der internationalen Presse empfing.
Er war kurz aus Den Haag, wo er seit seiner Suspendierung in Spanien als Berater am internationalen Strafgerichtshof arbeitet, nach Madrid gekommen. Er redete leidenschaftlich und wirkte dabei doch angespannt, etwas müde, ja traurig. „Ob ich mich Exilierter sehe? Freiwillig bin ich nicht nach den Haag gegangen“, gab er zu bedenken.
„Ich bin immer sensible Aspekte der spanischen Gesellschaft angegangen, und habe dabei – wie es meine Art ist – gründlich gearbeitet“, beschrieb Garzón, was ihm jetzt zum Verhängnis werden könnte. Das Recht auf Gerechtigkeit, Wahrheit und Wiedergutmachung ist für den Sohn einer einfachen, südspanischen Familie, ein Menschenrecht. Ob Drogenmafias, die baskischen bewaffneten Separatisten von ETA, deren politisches Umfeld, oder der schmutzige Krieg gegen eben jene ETA, den die sozialistische Regierung unter Felipe González in den 1980er Jahren führte, bis hin zum größten Korruptionsfall der spanischen Geschichte, der die Machenschaften der Regionalregierungen der PP untersucht, oder den Verbrechen Francos, Garzón traute sich an alles heran und schaffte sich damit mehr Feinde als Freunde – zumindest in den hohen Rängen der spanischen Politik.
Der Richter gilt als Arbeitstier. Bis tief in die Nacht saß er oft in seinem Gericht Nummer 5 an der Audiencia Nacional. Sein Ehrgeiz, sein Erfolg und Ruhm verschaffte ihm viele Neider. Er gilt sowohl der Vereinigungen der konservativen Richter, als auch den fortschrittlichen Richter für die Demokratie, zu deren Gründer der Vorsitzende im Verfahren gegen Garzón in Sachen Franco-Diktatur gehört, als unliebsamer Kollege – als Karrieremensch, als so etwas wie ein Showstar.
Garzón gefallen die Rechtswissenschaften. Auslegen, weiterentwickeln … ohne Juristen wie ihn, wäre das internationale Recht, wie es heute in Den Haag zur Anwendung kommt, wohl kaum denkbar. Das ihm dies jetzt als „Rechtsbeugung“ ausgelegt wird schmerzt. „Dieser Begriff steht für das Absurde, das nicht zu verteidigende“, erklärt Garzóns Anwalt, Gonzalo Martínez-Fresneda, warum. Das Gesetz sei eben nicht eine starre Angelegenheit, sondern diskutier- und auslegbar. Die internationalen Spezialisten, europäische und internationale Gerichtshöfe kommen wie Garzón zum Schluss, dass Amnestien für Verbrechen gegen die Menschlichkeit ungültig sind.
Als „ein perfektes Gewitter“, beschreibt Garzóns Verteidiger Martínez-Fresneda, was mit seinem Mandanten geschieht. „Ich glaube nicht, dass er an die Audiencia Nacional zurückkehren kann, selbst wenn er freigesprochen wird“, prophezeit er. Die meisten Prozessbeobachter sind sich einig: Egal wie die Verfahren ausgehen, nach den „Fällen Garzón“ wird sich in Spanien kaum noch ein Richter trauen, die Geschichte aufzuarbeiten oder die Korruption der großen Parteien anzugehen. „Sie erschossen Garzón an der Mauer der Demokratie“, titelt ein Blog auf der Seite der spanischen Tageszeitung El Público.