Die Zustimmung ist nicht zu überhören: „Endlich machen Sie was“ – „Wäre ich nochmals 20, wäre ich dabei“ – „Hoffentlich erreichen sie was“. „Sie“, das ist der bunte Haufen, der auf dem Platz in San Adrián del Valle eine Lautsprecher und ein Mikro aufgebaut hat. Das Dorf irgendwo dort, wo die Berge des Nordens aufhören und die heiße, ausgedorrte Hochebene Kastilliens beginnt, ist halb verlassen. Die Landwirtschaft ohne Bewässerung bringt schon lange nicht mehr die Erträge, um auf dem Markt mitzuhalten. Die Höhlen, die einst Weinkeller beherbergten, sind leer. Die Schule wurde schon vor Jahren geschlossen. Früher hatte der Ort mehrere Kneipen, einen Tanzsaal, Schuster, Fleischer, Bäcker … heute ist gerade noch eine Bar am Platz, wo jetzt Lautsprecher und Mirko stehen.
Die Bewohner von San Adrián haben sich pünktlich eingefunden. „Ich kenne das aus Madrid, von der Puerta de Sol“, dem Platz, der wochenlang ein Protestcamp beherbergte, das weltweit für Schlagzeilen sorgte. „Dort war ich oft auf den Versammlungen“, berichtet Doli (54). Die Verkäuferin in einer großen Kaufhaus der Hauptstadt findet sofort interessierte Zuhörer. San Adrián ist ein Dorf von Rentner, die in ihrem Geburtsort nach einem langen Arbeitsleben in einer der spanischen Wirtschaftszentren oder gar im Ausland ihren Ruhestand verbringen. Andere wie Doli kommen jeden Sommer zurück. „Arbeit gibt es hier keine“, berichtet Doli Weniger als ein Dutzend zahlende Mitglieder zähle die Sozialversicherung in San Adrián del Valle, mit seinen gerade noch 100 Einwohnern. Die Entwicklung von San Adrián ist typisch für die Dörfer im spanischen Hochland. Für die Bewohner ein Anlass immer wieder über die Wirtschaftspolitik der letzten Jahrzehnte zu schimpfen.
„Wir werden überall mit offenen Armen empfangen“, zeigt sich Brais zufrieden. Der 32-Jährige marschiert von Anfang an mit. Zuerst mit Gepäck auf dem Rücken, seit einer Woche ohne Rucksack. Ein kleiner Lieferwagen unterstützt jetzt den Marsch. „In einem der Dörfer haben die Bewohner beschlossen, sich weiterhin regelmäßig zu versammeln, um über ihre Probleme zu sprechen und Aktionen vorzubereiten. In einem anderen haben sie eine Gruppe gegründet, die Zwangsräumungen von Wohnungen verhindern wird, wenn jemand seine Raten nicht mehr an die Bank zahlen kann“, erzählt er stolz. Er ist seit Tagen unrassiert und wirkt müde. Doch wenn er redet, lebt er auf. Seine lebendigen Augen blitzen unter der tief im Gesicht sitzenden Schildmütze hervor.
Brais wählt seine Worte mit Bedacht. Er ist Schriftsteller, hat fünf Prosa- und Gedichtbände auf dem Markt. Doch zum Leben schreibt er anonym für andere – Drehbücher und Romane. „Ich kassiere und schweige.“ Negro – Nigger – nennen sie einen wie ihn im spanischen Literaturbetrieb.
Brais gehörte zu denen, die nach den Demonstrationen am 15. Mai in vielen spanischen Städten Protestcamps errichteten – in seinem Falle in Santiago de Compostela, der Hauptstadt der Region Galicien an der nordwestspanischen Atlantikküste. Als die Idee des Sternmarsches aufkam, zweifelte er keinen Augenblick. „Es ist eine wichtige aber anstrengende Erfahrung“, berichtet er. Die galicische Route des Sternmarsches ist aus drei Städten losgezogen. Rund 30 Personen haben sich zusammengefunden. Manche geben auf, andere kommen hinzu. Insgesamt haben sie bereits 380 Kilometer zurückgelegt. Weitere 260 Kilometer haben sie noch bis Madrid. Am 23. Juli wollen sich dort alle sechs Marschrouten treffen und ihren Protest vor das spanische Parlament tragen.
Es geht fast immer entlang der Landstraßen, „damit wir gesehen werden“. Staub, Hitze … und sobald sie ankommen, wartet viel Arbeit auf die Marschierenden. Sie bereiten die örtlichen Versammlungen vor, kochen für alle – die Lebensmittel spendet die Bevölkerung – und versammeln sich täglich untereinander. „Wir sind eine Bewegung ohne Anführer. Alles wird per Konsens beschlossen“, erklärt Brais.
Oft gehen Versammlungen zu kleinsten Problemen bis tief in die Nacht: „Und um sechs Uhr stehen wir auf. Um sieben sind wir auf der Straße.“ Eine der hitzigsten Versammlungen ging um die Frage, ob Journalisten zugelassen werden. Nach drei vergeblichen Konsensversuchen stimmten sie ab. „Anders als an der Puerta de Sol, wo alles nur per totalen Konsens geht, haben wir dieses Verfahren eingerichtet, um uns nicht völlig zu blockieren“, sagt Brais. Mehr als die erforderlichen 75 Prozent stimmten schließlich für die Pressepräsenz.
„Die Medien manipulieren nur“, wettert Sabrina, die sich am meisten gegen die Anwesenheit der Journalisten gewehrt hat, bei einer Marschpause irgendwo auf der Nationalstraße VI zwischen San Adrián und der Kleinstadt Benavente. Die 21-Jährige ist Medizinstudentin und stammt aus Vigo, ebenfalls in Galicien. Spaniens Presselandschaft ist völlig in politische Lager aufgespalten. Objektive Berichterstattung, wie Sabrina sie einfordert, kommt dabei sehr kurz.
Es ist heiß. Die Wolken am Himmel lassen all zu oft die Sonne durch. Sabrina mit ihren weiten Hosen, ein paar Sandallen und den unzähligen Lederbändeln um Hals und Handgelenk, gibt garnicht so recht den Typ eines ausdauernden Wanderes ab. Doch sie läuft immer ganz vorne weg. „Ich marschiere für zwei“, erklärt sie ihre Motivation. „Meine Mutter verdient in einem Restaurant gerade einmal 800 Euro. Sie wäre sicher dabei, wenn sie Zeit hätte“, überwindet die junge Frau ihre Abneigung gegen Journalisten. Sie ist am Ende des dritten Studienjahres. Nächstes Semester geht es mit einem Stipendium nach Berlin. „Ich hoffe, dass ich nach dem Studium Arbeit in meiner Heimat finde“, sagt sie. Hoffnung hat sie wenig. Im Gesundheitssektor wird in Folge der Krise gekürzt. Immer mehr junge Ärzte gehen ins Ausland. In anderen akademischen Berufen sieht es nicht viel besser aus. „Das ist doch nicht normal, auch wenn das alle als solches akzeptieren“, schimpft Sabrina. Im armen Galicien wandern die Menschen seit Jahrhunderten erst nach Lateinamerika dann nach Europa ab.
Dann kommt Sabrina auf die Sozialpolitik zu sprechen. Um der Krise Herr zu werden, hat die Regierung des Sozialisten José Luis Rodríguez Zapatero Hilfe für Langzeitarbeitslose gestrichen und das Renteneintrittsalter auf 67 erhöht. Gleichzeitig vergibt er Milliardenhilfen an die Banken und Sparkassen, die hinter der Spekulationsblase im Immobiliensektor stecken, die jetzt das Land tiefer in die Krise gerissen hat als andere europäische Nachbarn. „Was ist das für eine Welt, wo Großeltern arbeiten und Enkel arbeitslos sind?“ fragt Sabrina. In Spanien sind 20 Prozent ohne Job. Unter den jungen Menschen sind es knapp 45 Prozent.
„Dank des 15M fühle ich mich wieder nützlich“, lächelt er. Manuel kam im Mai zufällig am Protestcamp in Vigo vorbei: „Sie erklärten mir, um was es geht. Ich blieb.“ Er arbeitete am Informationsstand, half beim Aufbau der Wetterdächer. Als der Marsch losging, war er einer der Ersten. „Endlich werde ich gebraucht“, sagt Manual, drückt die Zigarette aus, greift zum Stock und nimmt wieder den Asphalt unter die Schuhe.
Weiter hinten mühen sich diejenigen ab, denen der lange harte Weg nicht so leicht fällt. Ainoa gehört heute zu ihnen. Die durchtrainierte Bergsteigerin leidet still in der Hitze. „Ich habe keinen guten Tag“, erklärt die 37-Jährige. Sie hat sich erkältet. Ihr Stimmbänder sind kurz davor den Dienst einzustellen. Sie fühlt sich fiebrig. „Außerdem bin ich etwas frustriert“, erklärt die Englischlehrerin. Sie wird noch einige Tage mitlaufen, dann muss sie zurück nach Madrid , von wo sie vor einer Woche angereist ist, „um meine Papiere beim Arbeitsamt einzureichen“. Ainoa ist nicht verbeamtet. Die Madrider Landesregierung setzt für das kommende Schuljahr die Stundenzahl für die Lehrer hoch. Ainoa gehört zu den 3.000 Lehrkräfte die dadurch ihre Stelle verlieren.
Ainoa hadert auch mit dem Marsch als solchem. „Wir hatten wieder einer dieser langen Versammlungen über unsere interne Organisation“, sagt sie nachdenklich. Die Alltagsprobleme, die sie dem „Aufeinanderprallen starke Charaktere in der Gruppe“ zuschreibt, nehmen die Zeit für politische Reflexionen, die an der Puerta de Sol so lebendig waren. „Wenn wir nicht in der Lage sind, unsere eigenen Mentalität zu kontrollieren, und unsere Werte zu überdenken, wird sich die Welt nie ändern“, sagt sie. „Die Versammlungen helfen dabei, aber das ist alles sehr ermüdend.“
Am Ende des Tages, in Benavente, werden Ainoa und die anderen mit der Gruppe aus Asturien zusammentreffen, um dann gemeinsam weiterzumarschieren. Die Asturier – aus den Zeiten der großen Bergarbeiterstreiks an Märsche auf Madrid gewöhnt – hätten weniger interne Debatten, hat Ainoa gehört. „Doch wenn aus zwei Versammlungen eine wird, weißt du nie, wie das ausgeht“, sagt sie dann. Madrid ist weit und jeder Tag eine neue Herausforderung.