Ariel Jérez setzt sich an einen langen Tisch in der Gartenkneipe in Villanueva de la Torre. Umgeben von Anhängern und Wählern bestellt er ein Bier, genießt die Fleischspießchen, die der Wirt auf den Tisch stellt, lehnt sich zurück und hört vor allem zu. Für heute ist Schluss mit Wahlkampf. Villanueva liegt in der Provinz Guadalajara, 40 Autominuten östlich der spanischen Hauptstadt Madrid. Der Ort mit seinen 7.000 Einwohnern ist für den 49-jährigen Jérez ein Heimspiel. „Es ist die größte Gemeinde in der Provinz, in der wir die Bürgermeisterin stellen“, sagt der Politikprofessor an der Universität in Madrid. Die 36-jährige Vanessa Sánchez, die seit Mai 2015 die Geschicke des Ortes lenkt, sitzt mit am Tisch.
Kandidat Ariel Jérez in einer Debatte im Lokalfernsehen in Azuqueca.
Den ganzen Tag ist Jérez durch die Region getourt. Er will ins Parlament einziehen. Vier Parteien streiten sich um die drei auf Provinzebene zu vergebenden Sitze im spanischen Parlament. Bis zum vergangenen 20. Dezember waren diese drei Sitze fest in der Hand der zwei Altparteien, der noch regierenden konservativen Partido Popular (PP) und der sozialistischen PSOE. Doch jetzt steckt das traditionelle Parteiengefüge in der Krise. Vergangene Winter traten erstmals vier Parteien mit guten Aussichten an. „Ich erzielte 17,5 Prozent. Mir fehlten 800 Stimmen für den Einzug ins Parlament“, erklärt Jérez. Die rechtsliberalen Ciudadanos holten damals den dritten Abgeordneten. Bei den erneuten Wahlen am kommenden Sonntag, die nötig wurden, da keine Regierung zustande kam, hat Jérez gute Chancen. Denn seine Podemos hat sich mit der Vereinigten Linken zu Unidos Podemos zusammengeschlossen. „Die Summe bringt mehr als mir fehlte“, sagt der Kandidat.
Wie im Dezember reist er wieder unermüdlich durch die dünn besiedelte Region, in die er vom Podemos-Vorstand in Madrid geschickt wurde, nachdem die eigentliche Spitzenkandidatin wegen innerparteilichen Reibereien zurückgetreten war. „Falschschirmspringer“ nennen Presse und politische Gegner den Auswärtigen. „Dabei haben diese in der Vergangenheit auch immer wieder Kandidaten von ausserhalb aufgestellt“, verteidigt sich Jérez.
„Anfänglich beäugten mich selbst die Leute von Podemos skeptisch“, gibt Jérez unumwunden zu. Doch mittlerweile hat sich Jérez seinen Platz erarbeitet. Ob Transparente malen, sie aufhängen, Material kaufen, Jérez ist Kandidat, Wahlkampfmanager und Basisaktivist in einem. „Ein richtiges Wahlkampfteam habe ich nicht“, sagt er. Es sind die örtlichen Gemeinderäte und Sympathisantengruppen von Podemos, die sogenannten Círculos (Kreise), die ihn überall empfangen und über die lokalen Probleme aufklären.
Jérez, der während des Wahlkampfs in der Stadt Guadalajara in einer kleinen Kammer bei Parteifreunden wohnt, musste nicht nur die Provinz erkunden. „Selbst Reden musste ich lernen“, sagt Jérez und grinst. Er forscht und unterrichtet seit vielen Jahren über soziale Bewegungen in Europa und Lateinamerika. Das ist ihm anzumerken. Lange Sätze, komplizierter Wortschatz … im Kontakt mit den Wählern funktioniert das nicht.
Es ist genau diesem Manko zu schulden, dass Jérez kaum bekannt ist. Dabei gehört er zu den fünf Madrider Professoren rund um Spitzenkandidat Pablo Iglesias, die Anfang 2014 Podemos ins Leben riefen. Anders als seine Kollegen nahm Jérez nie an Talkshows teil, stellt sich nur ungern Interviews. „Ich widmete mich anderen Aufgaben“, berichtet der stämmige Mann, der im Alter von neun Jahren mit seinem Eltern vor der Diktatur in seiner Heimat Argentinien nach Spanien flüchtete.
Jérez ist bei Podemos für den ländlichen Raum zuständig. Und genau das ist seine Hausmacht in Guadalajara. Die Provinz ist die Nummer 17 von 50 was die Ausdehnung angeht, aber nur die Nummer 42 in Bevölkerung. Im Hinterland wandert die Bevölkerung seit den 1950er Jahren ab. Junge Menschen haben keine Zukunft. Bis vor wenigen Jahren wurden die erneuerbaren Energien ausgebaut; das schuf endlich Arbeitsplätze auch in entlegenen Landstrichen. Doch die Konservativen haben diese Entwicklung gestoppt. Und das Wasser aus den Bergen dient nicht etwa, um eine örtliche Landwirtschaft aufzubauen. „Es geht per Pipelines in die 400 Kilometer entfernten Touristengebiete am Mittelmeer“, weiss Jérez.
Dort wo die Provinz Guadalajara an die Region Madrid grenzt, nimmt die Bevölkerung hingegen zu. Die Wohnungen sind billiger als in der Hauptstadt und Grund und Boden für Industrieansiedlung auch. So manches Unternehmen verlagerte Fabriken und Lagerhallen direkt auf die anderen Seite der Grenze, wo unter anderem Villanueva liegt. Der Ort wuchs in den letzten 20 Jahren von 600 Einwohnern auf 7.000. Unten an der Autobahn reiht sich ein Lagerhalle großer Speditionen und online-Versandhäuser an die andere. „Es ist der größte Logistikpark Europas“, weiß Jérez.
Kandidat Ariel Jérez lässt sich von Federico Moreno Valdeluz zeigen.
Industriegebiete und Wohnsiedlungen sind ohne einheitliche Planung entstanden. „Es fehlt an öffentlichen Verkehrsmitteln, an sozialen Einrichtungen“, erklärt Jérez. Das Symbol für diesen Wildwuchs ist Valdeluz, 20 Kilometer ausserhalb der Stadt Guadalajara und eine Autostunde von Madrid. Mitten im Nirgendwo hält der Hochgeschwindigkeitszug Madrid – Barcelona. Rund um den Bahnhof entstand während des Baubooms eine Retortenstadt. „Einst für 30.000 Menschen geplant, leben heute nur 2800 in Valdeluz“, erklärt Federico Moreno. Der 62-jährige Apotheker im Ruhestand hat ein Dossier vorbereitet und führt Jérez durch die Straßen. „Das Gelände gehörte dem Ehemann der ehemaligen konservativen Regierungschefin von Madrid, Esperanza Aguirre, deren Parteifreunde an der spanischen Regierung sassen, als die Zugstrecke geplant wurde“, erklärt Moreno.
Für die Folgen dieser Bausünde müssen jetzt die Steuerzahler aufkommen. Überall stehen Wohnungen leer, die Räume für Geschäfte wurden zugemauert. Viele Gebäude gehören der staatlich finanzierten, spanischen Bad Bank Sareb, die sich um Immobilien kümmert, die in die Krise geratenen Banken und Sparkassen im Laufe der Bankensanierung mit Steuergeldern und Eurorettungsschirm abgestoßen haben.
Gleichzeitig wurden in der autonomen Region Castilla- La Mancha, zu der Guadalajara gehört, 31 Prozent bei Bildung, 51 Prozent bei Sozial- und Beschäftigungspolitik und 17 Prozent im Gesundheitswesen eingespart. Guadalajara ist die viertärmste Provinz Spaniens mit einer Arbeitslosigkeit von knapp 29 Prozent. Die alten Parteien werden beide mit dieser Sparpolitik in Verbindung gebracht. Viele Wähler wanderten ab.
„Hier haben immer PSOE oder PP regiert, bis wir im Mai 2015 ins Bürgermeisteramt einzogen“, erklärt Vanessa Sánchez. Wir, das ist „Ahora Villanueva“, eine Bürgerliste rund um Podemos, die von meist jungen Menschen auf Versammlungen im Park gegründet wurde. „Wir sind eine der kinderreichsten Gemeinden Spaniens und eine mit dem höchsten Anteil an Wohnungskrediten pro Einwohner“, erklärt Sánchez. Dies führte zu einem neuen Rekord. „Wir haben einen der höchsten Quoten an Zwangsräumungen schuldiger Wohnungseigner“, fügt die Bürgermeisterin hinzu, die bis zu ihrer Kandidatur nie politisch aktiv war.
Die neue Gemeindeverwaltung vermittelt zwischen schuldigen Wohnungseigentümern und Banken. 40 Familien konnten so in ihren Wohnungen bleiben. Das schafft Sympathien. Bei den Parlamentswahlen im Dezember legte Podemos gegenüber den Kommunalwahlen an Stimmen zu, während die beiden großen Parteien weitere Stimmen verloren.
Kandidat Ariel Jérez und Bürgermeisterin Vanessa Sánchez spazieren durch Villanueva de la Torre.
Sánchez spaziert durch die Neubaugebiete ihres Ortes. Immer wieder wird sie herzlich begrüsst. Ob alt ob jung die Bürgermeisterin kennt sie alle. Selbst Menschen, die sie nicht gewählt haben, begegnen ihr freundlich. Parlamentskandidat Jérez läuft mit, lässt sich vorstellen, schüttelt Hände.
Carmen Pérez und Paco Abad gehören zu denen, die von den Sozialisten zu Podemos gewechselt sind. Die 65-Jährige ist mit ihrem Mann Paco Abad in die Gartenkneipe gekommen, um Kandidat Jérez kennenzulernen. Beide sind Rentner. Er arbeitete in seinen jungen Jahren bei Mercedes Benz in Sindelfingen und dann in einem Kaufhaus in Madrid. Sie war Jahre Putzfrau im öffentlichen Fernsehen TVE. Die beiden waren „immer Sozialisten“. „Bis die Sparpolitik einsetzte“, erklärt Pérez. Sie verzeihen der PSOE nicht, dass sie auf Druck aus Berlin und Brüssel eine Paragraphen in die Verfassung aufnahmen, die Schuldenzahlungen Vorrang vor Sozialabgaben gibt.
„Iglesias ist der erste echte politische Führer seit dem jungen Felipe González“, schwärmt Abad vom Podemos-Spitzenkandidaten. González führte Anfang der 1980er Jahre die Sozialisten an die Macht. Heute sind sie von „Felipe“ enttäuscht. Er saß in Aufsichtsräten, schimpft auf Podemos, wirbt gar für eine große Koalition, damit die Antiausteritätspartei ja nicht an die Regierung kommt.
Die beiden haben fünf Kinder. Nur eine Tochter hat eine feste Arbeit in einer der historischen Konditoreien auf der Hauptstraße in Guadalajara. Die anderen arbeiten in den Logistikunternehmen. „Mit prekären Verträgen, die Woche für Woche verlängert werden“, sagt Pérez. Das ist möglich seit zuerst die Sozialisten und dann die Konservativen das Arbeitsrecht änderten.
„Ich werde nie wieder Sozialisten wählen“, sagt Abad. „Wenn sie sich erneuern und einen guten Kandidaten aufstellen, überlege ich es mir“, entgegnet seine Frau. Doch danach sieht es derzeit nicht aus. Alle hier am Tisch hoffen auf eine gutes Abschneiden von dem „mit dem Pferdeschwanz“, wie sie Iglesias wegen seiner Haarpracht nennen. „Wenn wir Platz 2 belegen, wie die Umfragen vorhersagen, muss uns die PSOE unterstützen, alles andere wäre Selbstmord“, zeigt sich Abad zuversichtlich. „Iglesias hat das Zeug, um der Merkel zu sagen, dass es so nicht weitergehen kann“, sagt er. Seine Frau ist nicht ganz so optimistisch: „Und wenn sie doch eine große Koalition eingehen?“ gibt sie einer weiterverbreiteten Befürchtung Ausdruck.
Es sind die kleinen Provinzen wie Guadalajara, die am Sonntag den Ausschlag bei der Sitzverteilung geben werden. Bei Unidos Podemos sind sie sich dessen bewusst. „Gegen Ende der Woche wird mich Pablo Iglesias besuchen“, verrät Jérez. Er will mit seinem Freund und Kollegen über die Hauptstraße von Guadalajara flanieren. „Das ist hier in der Provinz Tradition im Wahlkampf“, sagt Jerez. Natürlich darf eines nicht fehlen: Kaffee und Kuchen in der Konditorei, in der die Tochter von Abad und Pérez arbeitet.