Es ist ein Flächenbrand. Seit Tagen gehen in verschiedenen tunesischen Städten meist junge Menschen auf die Straße. Sie fordern „Arbeit und ein menschenwürdiges Leben“. Die Polizei greift hart ein. Menschenrechtsorganisationen berichten von mindestens zwei Tote, Dutzende, zum Teil schwer Verletzte, unzählige Verhaftungen und Folter.
Die Protestwelle nahm ihren Ausgang von Menzel Bouzayane, einem 19.000-Einwohner-Ort in der Provinz Sidi Bouzid im Zentrum des Landes. Am 17. Dezember beschlagnahmte die örtliche Polizei den Wagen und die Ware des fliegenden Händlers Mohamed Bouazizi. Der 26-jährige, arbeitslose Hochschulabgänger versuchte mit dem Gemüsehandel seine Familie zu ernähren. Die Region von Sidi Bouzid ist eine Landwirtschaftsregion. Die Jugendarbeitslosigkeit ist hier extrem hoch. Verzweifelt verlangte Bouazizi die Herausgabe seiner Habseligkeiten. Die Behörden weigerten sich. Bouazizi übergoss sich mit Benzin und zündete sich an. Dabei schrie er immer wieder „Schluss mit der Armut! Schluss mit der Arbeitslosigkeit!“
Der Schlachtruf einer Bewegung war geboren. Während Bouazizi mit schweren Brandverletzungen in ein Krankenhaus in der Hauptstadt Tunis überführt wurde, kam es in seinem Heimatort zu einem spontanen und friedlichen Sit In. Die Polizei löste die Versammlung gewaltsam auf. Nachdem es am 22. Dezember zu einem zweiten Selbstmord eines arbeitslosen Hochschulabgängers kam, reißen die Proteste nicht mehr ab. Ein ebenfalls jugendlicher Arbeitsloser bestieg unweit von Sidi Bouzid einen Hochspannungsmast. Auch er schrie gegen Armut und Arbeitslosigkeit bevor er an ein Kabel fasste.
Den Höhepunkt der Proteste bildete eine Demonstration am vergangenen Freitag in Menzel Bouzayane. Mehrere Tausend Menschen zogen durch die Straßen. Die Polizei umstellte den Ort und griff den Protestzug mit Tränengas an. Die Demonstranten antworteten mit Steinen. Als die Polizisten das Feuer mit Schusswaffen eröffneten, eskalierte die Situation. Das Ergebnis: mindestens ein Toter Jungendlicher, zehn zum Teil schwer verletze Demonstranten, sowie zwei schwer verletzte Polizisten. Im Laufe der Auseinandersetzungen ging eine Lokomotive, drei Polizeifahrzeuge und die örtliche Polizeiwache in Flammen auf. Die Staatsgewalt habe „in legitimer Selbstverteidigung“ gehandelt, erklärte das Innenministerium des seit 1987 regierenden, autoritären Präsident Zine el-Abidine Ben Ali.
Laut dem oppositionellen Radiosender Kalima haben die Proteste mittlerweile auf mindestens ein halbes Dutzend weitere Städte übergegriffen. Auch hier setzt die Polizei auf Gewalt. Mindestens ein weiterer Toter sei zu bedauern. Die Beamten führten derweilen zusammen mit Milizen der Regierungspartei RCD Razzien auf der Suche nach Demonstranten durch. Die Verhafteten würden schwer gefoltert.
Die legale, oppositionelle Demkratisch Fortschrittliche Partei (PDP) verurteilte in einen Kommunique den Polizeieinsatz und erklärte sich solidarisch mit „einer Jugend für die Leben und Tod das gleiche sind“. Selbst der Vorstand der eher systemtreuen, tunesische Gewerkschaft UGTT spricht sich gegen „den Einsatz der Sicherheitskräfte gegen spontane Ereignisse“ aus und fordert „einen ernsthaften und konstruktiven Dialog“.
Falls sich die Nachrichten bestätigen sollten, nach denen sich am Montag ein weiterer junger Arbeitslose in Sidi Bouzid das Leben nahm, in dem er in einen Brunnen sprang, dürften die Proteste auch in den nächsten Tagen weitergehen.