© 2019 Reiner Wandler

Der kranke Mann in Nordafrika

Die erneute Kandidatur des greisen, schwerkranken Präsidenten Abdelaziz Bouteflika für das Amt an der Staatsspitze Algerien verwundert. Denn das Regime hatte es bisher immer verstanden, sich den Gegebenheiten anzupassen. Ob per Staatsstreich von Houari Boumedienne gegen den ersten Präsidenten der Unabhängigkeit Ahmed Ben Bella 1965, dem Militärputsch nach dem Wahlsieg der Islamischen Heilsfront (FIS) 1992, dem Bürgerkrieg gegen islamistische Untergrundgruppen … „le pouvoir“ – „die Macht“ – wie die Algerier das Konglomerat aus Interessen und Clans nennt, das im Hintergrund die Fäden in der Hand hält, hat es bisher immer verstanden, selbst in schwierigsten Situationen, oft mit extremsten Mitteln, für Kontinuität zu sorgen.

Doch jetzt haben die Mächtigen im Lande ganz offensichtlich den Zeitpunkt verpasst, die Nach-Bouteflika-Ära und damit das eigene Überleben vorzubereiten. Deshalb schieben sie den alte Mann im Rollstuhl erneut zur Kandidatur für eine fünfte Amtszeit. Womit sie nicht gerechnet hatten: Dieses Mal ist es das entscheidende Mal zu viel. Das Bild des schwerkranken Bouteflikas ist für die Algerier ein unerträgliches Symbol. Es steht für die Schwäche des überholten, aus der Unabhängigkeitsbewegung geerbten Regimes, das ihnen als korrupt gilt. Sie wollen es endlich los werden. Seit Wochen reissen die Proteste gegen eine mögliche fünfte Amtszeit nicht ab.

Dabei hätte Bouteflika als wichtiger Staatsmann in die Geschichte Algeriens eingehen können. Er hätte sich nur bei Zeiten zurückziehen müssen – sagen wir, kurz nach seinem Schlaganfall 2013, von dem er sich nie erholen sollte. Der einstige Aussenminister unter dem historischen Präsidenten der Unabhängigkeit Houari Boumedienne wurde 1999 erstmals an die Staatsspitze gewählt. Er versprach nach dem „dunklen Jahrzehnt“ des Bürgerkrieges zwischen Armee und islamistischen Untergrundgruppen, der 200.000 Opfer gefordert hatte, das Land zu befrieden. Dies gelang ihm weitgehend mit einer Amnestie und einem Gesetz zur Nationalen Aussöhnung, die beide per Volksabstimmung bestätigt wurden. Bouteflika gliederte einen Großteil der Untergrundkämpfer wieder in die Gesellschaft ein. Und er integrierte einen Teil des politischen Islamismus in seine Regierungen.

Doch dann begann die Zeit, die Bouteflika zum Symbol des verknöcherten Regimes machte. Er ließ die Verfassung ändern, um nach zwei Amtszeiten erneut kandidieren zu können. Selbst nach dem Schlaganfall bewarb er sich 2014 ein weiteres Mal für das Amt. Er wurde gewählt, trotz seiner Abwesenheit im Wahlkampf. Fortan verbrachte Bouteflika mehr Zeit im Krankenzimmer seiner Sommerresidenz an der Küste ausserhalb Algiers als im hauptstädtischen Präsidentenpalast. Staatsbesuche empfängt er nur noch selten. Und wenn er reist, dann zu medizinischer Behandlung nach Frankreich oder in die Schweiz. Bei den seltenen Auftritten im staatlichen TV bekommt das Volk einen regungslosen Mann im Rollstuhl zu sehen, der nicht mehr richtig sprechen kann.

Wer wirklich regiert? Das ist Stoff für ausführliche Spekulationen. Die Presse schreibt diese Rolle dem jüngeren Bruder Said Bouteflika zu. Er ist Präsidentenberater und damit einer der wenigen, der persönlichen Kontakt mit dem schwerkranken Staatschef hat. In Bouteflikas bisher letzter Amtszeit begann sein Umfeld mit Umstrukturierungen im Machtgefüge. Generäle wurden in den Ruhestand geschickt, der übermächtige militärische Geheimdienst durch einen zivilen ersetzt. All das diente der Stabilisierung der Machtstrukturen, die den Präsidenten und dessen Bruder umgeben. Eine Demokratisierung, wie sie Bouteflika 2011 angesichts des arabischen Frühlings versprach, blieb aus.

Anders als in den Nachbarländern Tunesien oder auch in Marokko war es in Algerien in jenen Monaten zu keinen Großdemonstrationen gekommen. „Revolution? Nein Danke“ bekam man von jungen Algeriern oft zu hören. Nur zu gut war ihnen in Erinnerung was passierte, als Ende der 1980er Jahre das Einparteiensystem stürzte. Der Sieg der Islamisten bei den Wahlen 1991/92, der darauffolgenden Staatsstreich der Armee und „das dunkle Jahrzehnt“ hat Algerien geprägt. Die Angst vor einem neuen Konflikt war deshalb trotz demokratischem Aufbruch beim kleinen Nachbarn Tunesien größer als der Wunsch nach Veränderung.

Bis jetzt eine erneute Kandidatur „der Mumie“, wie viele Bouteflika nennen, das Fass zum überlaufen brachte. Noch nie seit der Feier der Unabhängigkeit nach acht Jahren Krieg gegen Frankreich 1962, der nach algerischen Angaben eine Million Tote geforderte hatt, waren so viele Menschen auf der Straße, wie in den vergangenen Wochenenden gegen eine fünfte Amtszeit Bouteflikas.

Ob alt, ob jung, ob aus den tristen Vorstädten, oder den kolonialen Innenstädten, es ist eine breite Bewegung, die endlich eine Veränderung will, in einem Land, in dem trotz Öl- und Gasreichtum viele keine Zukunft haben. Die Hälfte der algerischen Bevölkerung ist jünger als 30 und hat nichts anderes gesehen als Bürgerkrieg und / oder Bouteflika.

Trotz der Androhung von Gewalt seitens der Regierung und Armee, wächst die Bewegung der durchgestrichenen 5 unaufhörlich. Selbst das Clansystem, das seit der Unabhängigkeit das Regime stützt, bricht auf. Teile der einstigen Einheitspartei FLN befinden sich seit längerer Zeit in der Opposition zu Bouteflika und dessen Umfeld. Aus dem Unternehmerverband und der Gewerkschaft schließen sich einflussreiche Mitglieder den Protesten an. Und auch der mächtige Verband der Veteranen des Unabhängigkeitskriegs begrüsst das „zivilisierte Verhalten“ der weitgehend gewaltfreien Demonstranten und wirft der Regierung gar vor, „nicht auf der Höhe der legitimen Bestrebungen unseres Volkes“ zu sein.

Ein Brief, der angeblich von Bouteflika nach den ersten Protesten im Hospital in Genf verfasst wurde, bietet einen geordneten Übergang an. Bouteflika werde in seiner fünften Amtszeit eine neue Verfassung ausarbeiten lassen und dann vorgezogene Präsidentschaftswahlen ausrufen, heisst es dort.

„Die Macht“ bittet um Zeit, doch das Volk ist nicht gewillt ihr diese zu gewähren.

Was bisher geschah: