© 2018 Reiner Wandler

Verfassung hat ausgedient

Die spanische Verfassung wird 40 Jahre alt. Was lange als Beispiel eines gelungene Übergangs nach Jahrzehnten der Diktatur zur Demokratie galt, steht heute im Kreuzfeuer der Kritik. Das „sie vertreten uns nicht“, der 2011 als Empörtenbewegung bekannt gewordenen Proteste, ist längst in großen Teilen der Bevölkerung angekommen. Dieser Tage finden in Stadtteilen, Gemeinden und Universitäten selbstorganisierte Volksabstimmungen über die Staatsform statt. Es geht ums Eingemachte, um Monarchie oder Republik, und damit um den Hauptpfeiler der Ordnung Spaniens. Die Monarchie galt lange als Tabu in Spaniens Politik.

Von Diktator Franco eingesetzt, war König Juan Carlos I. dennoch für viele derjenige, die für demokratische Stabilität sorgte. Zumindest bis er 2014 abdankte, schwer angeschlagen durch seine amourösen Jagdescapaden und Korruptionsfälle in der königlichen Familie. Sohn und Thronfolger Felipe VI. konnte den Verfall der Akzeptanz der Monarchie nicht aufhalten. Das staatliche Umfrageinstitut veröffentlicht schon lange nicht mehr, wie beliebt oder unbeliebt die Monarchie in der Bevölkerung ist. Private Meinungsforschungsinstitute belegen, dass mehr als die Hälfte der Spanier gerne über die Staatsform abstimmen würden. Bei den unter 35-Jährigen ist demnach eine klare Mehrheit für eine Republik. Nur bei den Rentnern gewinnt die Monarchie deutlich und das auch nur in Zentralspanien. In den peripheren Regionen wollen sie einen gewählten Staatschef.

Die Frage der Monarchie ist das deutlichste Beispiel dafür wie schwer angeschlagen das „Regime von 1978“, wie die Spanier ihre aktuelle Demokratie nach dem Jahr der Verabschiedung der Verfassung nennen, ist. Die Rechtfertigungskrise betrifft alle Bereiche des Staates. Das durch Korruption in Verruf gekommene Zwei-Parteiensystem ist Geschichte. Die beiden neuen Parteien, die linksalternative Podemos und die rechtsliberale Ciudadanos, haben sich in Rekordzeit überall im Lande fest verankert. Die Sparpolitik für die die Konservative und Sozialisten verantwortlich zeichnen, tat ein Übriges.

Die Meinungsfreiheit wurde in den Jahren der Krise und Proteste immer weiter gesetzlich eingeschränkt Demonstranten werden mit hohen Bussgeldern belegt, Twitteraktivisten und Rapper wegen ihrer Texte verfolgt. Dadurch geriet auch die Justiz in Misskredit geraten. Zu offensichtlich ist ihre Nähe zu Macht und Wirtschaft.

Zumindest König Felipe VI. hätte eine Chance gehabt, seine Glaubwürdigkeit zu stärken und er hat sie vertan. Sein Vater Juan Carlos trat einst beim gescheiterten Staatsstreich am 23. Februar 1981 vor die Fernsehkameras und hielt eine Ansprache, in der er die Demokratie verteidigte. Die Rede kam spät – bis heute ist unklar warum, die Archive sind fest verschlossen – aber sie kam. König Juan Carlos zehrte bis ans Ende seiner Tage auf dem Thron von jenem Abend als er zum Garant der Demokratie wurde.

Auch Felipe VI. trat in einem entscheidenden Moment der jüngsten spanischen Geschichte vor die Kameras. Es war der 3. Oktober 2017, zwei Tage nachdem in Katalonien trotz Verbot aus Madrid ein Unabhängigkeitsreferendum stattgefunden hatte. Die Polizei wütete in den Wahllokalen und hinterließ knapp 1.000 Verletzte. Die Bilder gingen um die Welt. Der junge Monarch vergab die Chance gehörig. Anstatt zum Dialog aufzurufen, vermittelnd einzugreifen, wie es die Verfassung vorsieht, warf er der katalanische Autonomieregierung „unzulässige Untreue“ vor. Er verteidigte den brutalen Polizeieinsatz. Der Staat müsse die „verfassungsmäßige Ordnung“ gegen die Unabhängigkeitsbestrebungen verteidigen. „Angesichts dieser Situation von extremer Tragweite“ sei es „die Verantwortung der legitimen Staatsgewalten (…) die verfassungsmässige Ordnung aufrecht zu erhalten.“

Er vergab für immer seine Chance, an einer eigenen Legende des staatstragenden, weißen Monarchen zu stricken. Nach der Rede kam, was kommen musste. Aktivisten und Politiker wurden inhaftiert, andere flohen ins Ausland. Ihnen drohen hohe Haftstrafen wegen Aufstand. Katalonien wurde monatelang unter Zwangsverwaltung gestellt. Diejenigen, die sich Verteidiger der Verfassung nennen – allen voran die rechtsliberalen Ciudadanos, machen für die bedingungslose Einheit Spaniens mobil und gaben damit den Faschisten eine Bühne. Jetzt droht ihr Einzug ins Parlament.

Mit den Unabhängigkeitsbestrebungen der Katalanen und – in bisher noch geringerem Masse – der Basken sind die alten Probleme zurück. Die Territorialfrage war zu Zeiten der Zweiten Republik in den 1930er Jahren eines der Themen, die letztendlich zum Putsch der Franco-Faschisten, Bürgerkrieg und Diktatur führten. Die Frage der Nationen in Spaniens Peripherie hat bis heute eine ungeahnte Sprengkraft. Die Verfassung von 1978 löste dies mit den Autonomen Regionen nur vorübergehend. Eine dauerhafte Lösung, etwa ein föderales System galt als unmöglich. Die franquistischen Kräfte und Apparate wie Armee und Polizei standen drohend im Hintergrund.

Das „Regime von 1978“ wurde so aus der Angst geboren. Viele Spanier befürchteten nach dem Tod des Diktators einen erneuten bewaffneten Konflikt, sollte sie ihren Wunsch nach all zu großen Veränderungen entschieden verfolgen. Sie begnügten sich mit einer Reform des franquistischen Regimes, statt einem endgültigen Bruch. Der Schwur von König Juan Carlos vor dem franquistischen Scheinparlament auf die Prinzipien der faschistischen Bewegung gehören ebenso zu diesem Übergang, wie die Amnestie für alle franquistischen Verbrechen. Über 100.000 Opfer liegen bis heute irgendwo verscharrt in Massengräbern. Die tragische Geschichte wurde nie aufgearbeitet.

„Wir haben keine Angst“ riefen die Empörten. Sie meinten damit nicht nur die Polizei die die Demonstrationen begleitete und letztendlich kaum eingriff. Sie beziehen sich auf ihre eigene Geschichte, oder besser gesagt auf die ihrer Eltern und Großeltern. Kann eine Gesellschaft jede Generation erneut über eine Verfassung abstimmen, wie dies derzeit viele der nach 1978 geborenen verlangen? Sicher nicht. Doch Spanien wird – der künftigen Stabilität zuliebe – wohl kaum um eine große Verfassungsreform oder gar um einen konstituierenden Prozess herumkommen. „Echte Demokratie – Jetzt!“ lautete das Motto der ersten Großdemonstration der Empörten an jenem 15. Mai 2011.

Was bisher geschah: