Wenn einem Buch ein Zitat des Altmeisters der Spionageromane John Le Carré voransteht, dann lässt dies eigentlich nur zwei Urteile zu: Entweder ist der Autor größenwahnsinnig, oder er hat tatsächlich ein gutes Werk abgeliefert. Für Yassin Musharbash gilt Zweiteres. Der neue Roman des Investigativjournalisten ist ein gelungener Politthriller. Die Geschichte rund um einen deutschen Kämpfer des Islamischen Staates (IS) darf sich durchaus mit den Großen des Genres vergleichen. Musharbash, Sohn einer deutsch-jordanischen Familie, bringt in seinem zweiten Roman seine Kenntnisse über die arabische Welt, die zunehmende Radikalisierung vieler, vor allem junger Muslime und den Dschihad ein.
Der junge Ostdeutsche Gent Sassenthin bricht nach einem schweren persönlichen Schlag sein Medizinstudium ab, konvertiert zum Islam und reist nach Syrien, wo er sich dem Islamischen Staat (IS) anschließt. Er arbeitet als Sanitäter in Rakka, der Hauptstadt des „Kalifats“, in einem Krankenhaus, heilt Kriegsverletzte, vollstreckt aber auch Gerichtsurteile an gemeinen Verbrechern, in dem er etwa Dieben die Hand amputiert.
Bis er ins Zweifeln kommt und mit seinen Eltern Kontakt aufnimmt. Diese suchen einen Weg, um ihren Sohn zur Rückkehr zu bewegen und wenden sich an den Berater für Familien Radikalisierter, Titus Brandt. Die Behörden ermitteln derweilen ebenfalls. Verfassungsschützer Sami Mukhtar im Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum in Berlin hofft darauf, dass der junge Mann überläuft und Geheimnisverrat verübt. Die Journalistin Merle Schwalb wittert eine große Geschichte.
Sassenthin wird zum Spielball der Interessen. Der IS inszeniert seinen angeblichen Tod. Welche Pläne haben die Islamisten mit dem jungen Deutschen? Will dieser wirklich aussteigen oder ist er Teil einer Strategie, um die internationalen Geheimdienste zu täuschen?
„Jenseits“ beschreibt Sassenthins Werdegang vom frustrierten Jugendlichen, der dem Alkohol und den Drogen zuspricht hin zu einem gläubigen und schließlich radikalen Muslimen. Es sind die Grautöne, die Musharbash, der seit Jahren über Radikalisierung recherchiert und schreibt, dabei interessieren. Sassenthin radikalisiert sich in Deutschland zwischen seinen beiden Lehrern, einem zwar orthodoxen Salafisten Abu Karim, der dennoch die Gewalt ablehnt, und dem Dschihadisten Abu Muhanad. Gent überzeugt schließlich die radikalen Ansichten des Zweiten.
Musharbash versucht zu erklären, was in den Köpfen derer passiert, die aus Europa aufbrechen, um in den Krieg für das „Kalifat“ zu ziehen. Und er beschäftigt sich mit den Beamten in den Behörden und Geheimdienste, die er als völlig überfordert darstellt. Bis auf seine Romanfigur, der Antiterrorspezialist Mukhtar, wie Musharbash selbst in der europäischen und arabischen Kultur verankert, begreifen sie nicht wirklich, was geschieht.
Was „Jenseits“ neben der hervorragend erzählten Geschichte so lesenswert macht, sind die Erfahrungen Musharbashs, die er in das Buch einfließen lässt. Er weiß, wie sich das Leben in Deutschland aber auch in der arabischen Welt anfühlt. Er ist mit beiden Mentalitäten vertraut. Und er die Orte der Handlung aus eigener Anschauung. Berlin, Beirut, Aman, Syrien … Musharbash versteht es, die Erfahrungen, die ein Deutsch-Araber wie Verfassungsschützer Mukhtar macht, darzustellen. Er beschreibt dessen Verzweiflung angesichts sinnloser Kriege im Nahen Osten, die all das in Schutt und Asche legen, was Mukhtar – wie auch der Autor selbst – aus Urlaubs- und Arbeitsaufenthalten kennt. Und er beschreibt die Gefühle eines in zwei Kulturkreisen verankerten Menschen; dieses Empfinden, nie ganz dazuzugehören, weder hier noch dort.
„Ich hatte zwei treibende Gedanken: Ich wollte etwas darüber schreiben, wie eine Radikalisierung abläuft, und zwar so, dass es wirklich plausibel ist, nicht nur für die Leser, auch für mich selbst. Das zweite war: Ich wollte die merkwürdige Erfahrung beschreiben, die ich immer wieder gemacht habe, dass sich eine Geschichte wie die eines Terroristen, ganz unterschiedlich anfühlen kann und abspielt, je nachdem, aus wessen Sicht man sich nähert“, erklärt Musharbash.
So spielt der Autor in „Jenseits“ – wie bereits bei seinem ersten Roman „Radikal“ – ständig mit unterschiedlichen Ebenen. Sannathins Geschichte wird aus aus der Perspektive der Eltern, des Verfassungsschützers Sami Mukhtar, des Sozialarbeiters und Familienberaters Titus Brandt, der Journalistin Merle Schwalb und aus dem eigenen Erleben Gents in Syrien geschildert.
Und Musharbash spielt mit dem Faktor Zeit. Ist Sassenthin nun tot, lebt er noch? Je nachdem wer erzählt, ist die Antwort eine andere. Musharbash stellt damit die Frage nach den Quellen, auf die er sich selbst bei seiner Pressearbeit immer wieder stützt und stützen muss. Wie glaubwürdig sind sie? „Die Geschichten, die wir Journalisten erzählen, sind oft so lückenhaft, wir interpolieren so viel, und manchmal geht darüber verloren, dass es eine andere Realität gibt“, erklärt der Autor.
Yassin Musharbash: „Jenseits“. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017, 320 S., 12,99 Euro