© 2017 Reiner Wandler

Die neue Sprecherin

 

Es ist ein ungewöhnlicher Anblick, das sich Abend für Abend in Al Hoceima, der wichtigsten Stadt im nordmarokkanischen Rifgebirge wiederholt. Kurz nach dem Fastenbrechen steht Nawal Ben Aissa auf einem Platz im Stadtteil Sidi Abed, mit dem Mikro in der Hand. Das offene schulterlange, blonde Haar, bewegt sich in der nächtlichen Brise. Die 36-Jährige trägt ein Shirt mit dem Portrait des gestern vor einer Woche verhafteten Anführers der Prostetbewegung Hirak in Al Hoceima, Nasser Zafzafi. Umgeben von Frauen die sehr wohl ihr Haar mit einem traditionellen Kopftuch bedeckt halten, verlangt die Mutter von vier Kindern die Freilassung von Zafzafi und 20 weiteren Verhafteten. Sie spricht laut, selbstbewusst. Sie versteht es zu begeistern.

Ben Aissa ist mit einem Taxifahrer verheiratet, der nicht an der Bewegung teilnimmt aber, wie sie sagt, „stolz auf mich ist“. Sie wuchs in mit sechs Geschwistern im „von der Korruption erdrückten Rif“ auf, so ihre Präsentation auf Facebook. Nach der Matura hörte sie auf zu studieren, da ihr Vater das Geld nicht hatte sie auf die Universität zu schicken. „Ich habe an allen friedlichen Demonstrationen teilgenommen“ seit jenem Oktobertag als ein ambulanter Fischhändler ums Leben kam, als er versuchte seine beschlagnahmte Ware aus einen Müll-LKW zu retten. Ben Aissa war dennoch bis vor einer Woche, als sie erstmals vor der allabendlichen Demonstration sprach weitgehend unbekannte. Nur am 8. März, dem Frauentag, war sie in der ersten Reihe zu sehen.

Wie Zafzafi ruft ben Aissa zur Gewaltlosigkeit. Wer Steine werfe gehöre nicht zur Bewegung, die Polizisten seien „Brüder“, die sich nur dadurch unterschieden, dass sie eine Uniform tragen. Den Vorwurf der Presse und Politik, die Bewegung wolle das Rif von Marokko abspalten, weisst Ben Aissa ebenfalls wie Zafzafi zurück. Auf den Demonstrationen wehen dennoch die Fahnen der Rif-Republik (1921-1926), als eine Rebellenarmee unter dem von Zafzafi und Ben Aissa verehrten Führer Abdelkrim die spansichen Kolonialherren zurückdrängten. Doch von kulturellen Forderungen der Berber spricht Ben Aissa nicht. Ihr geht es um Arbeit und Würde und um fehlende Krankenhäuser und fehlende Hochschulen in der Region.

Angst, dass sie das selbe Schicksal ereilen könnte wie Zafzafi? „Ich werde mich nicht verstecken, auch wenn das bedeutet, dass sie mich verhaften!“ schreibt sie auf ihrem Facebook. Sie fürchte nicht das Gefängnis, sondern den Schmerz, den es ihren Eltern bereiten könnte, „mich hinter Gittern zu sehen“.

Was bisher geschah: