© 2017 Reiner Wandler

Proteste reißen nicht ab

 

Al Hoceima kommt nicht zur Ruhe. Seit der Verhaftung des Anführers der sozialen Protestbewegung „Hirak“, Nasser Zafzafi, am Montag vor einer Woche ziehen Abend für Abend Tausende durch die wichtigste Stadt des nordmarokkanischen Rifgebirges. Sie verlangen Arbeit und Investitionen in der Region. Ihr Motto lautet: „Freiheit, Würde und soziale Gerechtigkeit!“ Ausserdem skandieren sie immer wieder: „Wir sind alle Zafzafi“.

Die Protestierenden werden immer wieder von der Polizei gewaltsam daran gehindert, in die Innenstadt zu marschieren. Die Bewegung in Al Hoceima begann vor rund sieben Monaten, als der ambulante Fischhändler Mouhcine Fikri ums Leben kam, als er seine von der Polizei beschlagnahmte Ware aus dem Innern eines Mülllasters retten wollte. Die Müllpresse quetschte ihn zu Tode. Was als Protestbewegung junger Menschen begann, umfasst längst alle Altergruppen.

Den Platz des inhaftierten 37-jährigen Zafzafi hat mittlerweile die ein Jahr jüngere Nawal Ben Aissa eingenommen. „Sie können so viele Aktivisten verhaften, wie sie wollen, wir werden nicht aufgeben“, lautet einer der Sätze, die die Mutter von drei Kindern, die ihr langes blondes Haar offen trägt, auf den Kundgebungen der Menge zuruft. „Die Rechte des Rifs werden mit den Füssen getreten“, erklärt Ben Aissa.

Das Rifgebirge – Heimat der Berberminderheit, die sich in den 1950er Jahren gegen die Regierung in Rabat erhob – werde völlig vernachlässigt. „Wir haben nicht einmal ein Krankenhaus, das in der Lage wäre einen Brustkrebs zu behandeln“, beschwert sich Ben Aissa, die laut eigenen Angaben keiner Partei und auch keiner Gewerkschaft angehört, in einem Interview. Wie bereits Zafzafi, betont auch Ben Aissa, dass es der Bewegung nicht um die Abspaltung des Rifs von Marokko gehe, wie die Presse immer wieder schreibt.

Zafzafi werden mehrere Delikte zur Last gelegt. Als Anführer der Proteste habe er die „nationale Sicherheit gefährdet“. Ausserdem solle er die freie Religionsausübung behindert haben, als er in der Moschee lautstark dem Iman widersprach, als dieser den Protestierenden vorwarf, Marokko spalten zu wollen.

Neben Zafzafi schickte der Ermittlungsrichter in Casablanca Ende vergangener Woche weitere 19 Aktivisten in Untersuchungshaft. Ihnen wird Brandstiftung, versuchter Mord, Anschlag auf die innere Sicherheit, und das „Sammeln von Geldern für Aktivitäten und Propaganda die die Einheit und Souveränität des Königreiches gefährden“, vorgeworfen. Ausserdem hätten sie zur „Destabilisierung der Treue der Bürger gegenüber Staat und Institutionen“ beigetragen. Ein weiterer Verhaftete wurde unter richterlichen Auflagen freigelassen.

Auch die neue Anführerin der Bewegung Hirak, Nawal Ben Aissa, hat ihr Engagement bereits zweimal auf die Polizeiwache gebracht Vergangenen Donnerstag wurde sie zum einstündigen Verhör vorgeladen. Am Samstag wurde sie vorübergehend verhaftet, nachdem die Polizei eine Frauendemonstration für die Freilassung Zafzafis und 20 weitere Inhaftierten gewaltsam auflöste.

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Meine Meinung

Die Ruhe trügt

Die Bilder gleichen sich. Sechs Jahre nach dem Arabischen Frühling sind im Norden Marokkos die Menschen erneut auf den Straßen. In Al Hoceima und anderen Städten des Rifgebirges, der Region der Berberminderheit, verlangen sie erneut Würde und eine Zukunft. Sie protestieren gegen das, was in Nordafrika „Hogra“ genannt wird: ein Begriff, der von Machtarroganz über Entwürdigung und Missachtung der elementarsten Lebensbedürfnisse alles umfasst.

Auch weit im Süden, in den von Marokko besetzten Gebieten der ehemaligen spanischen Kolonie Westsahara, sind ähnliche Bilder zu sehen. Hier vermischt sich der Protest gegen die Perspektivlosigkeit mit dem Wunsch nach Unabhängigkeit.

Noch geben sich König Moham-med VI. und seine Regierung gelassen. Schließlich finden die Proteste nur in den beiden seit jeher als rebellisch geltenden Randregionen statt. Bis auf ein paar kleinere Solidaritätsaktionen – die meist von in Rabat und Casablanca lebenden Berbern oder Sahrauis veranstaltet werden – ist es im marokkanische Kernland ruhig.

Mohammed VI., seine Regierung und die dem Palast treu ergebene Presse nutzen gezielt die Konflikte zwischen der arabischen Bevölkerungsmehrheit und den Berbern sowie den Sahrauis. Ihnen wird der Stempel der Separatisten aufgedrückt. Was bei den Sahrauis – die nie Marokkaner waren – richtig ist, stimmt so bei den neuen Berbergenerationen nicht. Es geht um die soziale Situation. Und die ist überall im Lande mehr oder weniger gleich prekär.

Deshalb trügt die vermeintliche Ruhe im Kernland. Zwar hat der König im Laufe des Arabischen Frühlings die Verfassung geändert und kleine Portionen seiner Machtfülle an das Parlament und damit an die Parteien abgegeben – doch die soziale Lage in Marokko ist heute so angespannt wie damals. Der Funke kann, wie die Ereignisse von damals zeigen, schnell überspringen.

Was bisher geschah: