Adam Sijilmassi schmeisst hin. Seine tiefe, persönliche Krise beginnt auf einer Geschäftsreise. In 30.000 Fuß Höhe, auf dem Rückflug von Asien in seine Heimat Marokko, kommen dem Ingenieur eines großen, internationalen, marokkanischen Industriekonzern die Zweifel. „Was tu ich eigentlich hier“, fragt er sich. Mit dieser Geschwindigkeit, in dieser Höhe, in dieser umweltverschmutzenden Blechkiste. Der Roman „Die Leiden des letzten Sijilmassi“ des marokkanischen Autors Fouad Laroui ist die Geschichte einer Midlife-Crisis ganz besonderen Art.
Eigentlich hat Adam Sijilmassi alles erreicht, von dem seine Vorfahren – die Patriarchen einer einflussreichen Familie aus einer Kleinstadt – nur träumen konnten: Einen Schulabschluss am französischen Gymnasium in Casablanca, internationale Studien, einen leitenden Posten in einem großen Unternehmen. Doch all das erfüllt ihn nicht mehr. Sijilmassi „entschleunigt“ sein Leben. Er kündigt, trennt sich von seiner Frau und macht sich per Fuss auf den Weg in jenes traditionelle Anwesen – ein Riad – in dem er einst aufgewachsen ist, um „Voltaire“ aus seinem Leben zu vertreiben und die philosophisch-religiösen Wurzeln seiner selbst zu erforschen.
„Parlament“ nennt er die widerstreitenden Gedanken und Stimmen in seinem Kopf. Es debattieren die angelesenen Stimmen westlicher – meist französischer – Philosophen und Autoren, mit denen der alten marokkanischen Literatur, die er in verstaubten Büchern in einer Ecke des Riad wiederentdeckt. „Leser und Literaturkritiker waren verwundert über die vielen literarischen Zitate in diesem Werk. Sie hatten den Eindruck, einer von zwei Sätzen sei ein Zitat“, beschreibt Laroui den Collage-Stil den er einsetzt; fast wie ein Rapper der Zitate sampelt.
„Ich wollte etwas veranschaulichen, was mit wichtig ist: Unsere Identität ist teilweise geprägt von unseren Lektüren (…) Anders ausgedrückt: unsere Welt ist in Teilen das Ergebnis unserer Lektüren“, fügt Laroui, wie seine Romanfigur Sijilmassi selbst Ingenieur und Wirtschaftswissenschaftler und wie seine Romanfigur das Resultat der französischen Elitebildung in der einstigen Kolonie Marokko, hinzu.
Laroui, der nach einer Arbeit als Direktor eine Mine mittlerweile an der Universität in Amsterdam französische Philospie und Literatur unterrichtet, geht es darum aufzuzeigen, was passiert, „wenn die Lektüre systematisch geschieht, seit der jüngsten Kindheit, in einer anderen Sprache als der, die in einem Land, in dem man lebt, gesprochen wird, in einer fremden Sprache.“ Adam Sijilmassis Krise ist die der persönlichen Entkolonialisierung.
Sijilmassi entdeckt die reiche arabische Literatur. Es sind philosophisch-religiöse Abhandlungen, die alles in Frage stellen, den kritischen Geist verteidigen und das lange vor den großen Franzosen. Doch damit eckt Sijilmassi nicht minder an der Realität an, als mit seinem bei Voltaire, Descartes, Camus und all den anderen großen französischen Autoren Gelerntem. Im aktuellen Marokko ist nichts über vom kritische Geist der Ibn Rushd, Al-Ma‘arri, Al Jahiz …
In seiner Heimatstadt wird Adam, der letzte Spross der hochangesehen Familie Sijilmassi in die Konflikte der aktuellen marokkanischen Gesellschaft hineingezogen. Islamisten und Makhzen – der Machtapparat rund um den Königspalast – führen erbitterte Auseinandersetzungen um die politische und gesellschaftliche Vorherrschaft. In einem Stil, irgendwo zwischen tragischer Komödie und Satire, erzählt Laroui, wie Sijilmassi sich – ohne sein aktives Zutun – immer weiter in diesen gesellschaftlichen Dynamiken, die ihm als Ingenieur in Casablanca fremd waren – verstrickt und sich nicht mehr befreien kann.
„Das Leiden des letzten Sijilmassi“ – der zweite auf deutsch erschienene Roman des in Frankreich mehrfach preisgekrönten Fouad Laroui – ist eine gekonnte literarische Analyse dessen, was eine ganze Generation von Menschen in den ehemailgen Kolonien wie Marokko ausmacht. Ihre Wurzeln liegen in der arabisch, muslimischen Welt, ihre Bildung entspricht der ihrer westlichen Altersgenossen. Adam Sijilmassi soll es nicht gelingen, einen Kompromiss zwischen den beiden Identitäten zu finden. Er wählt die völlige Flucht aus der Realität in Form eines Einsiedlerdaseins.
Fouad Laroui: „Das Leiden des letzten Sijilmassi
Verlag: Merlin; Auflage: 1 (9. September 2016)
ISBN-10: 3875363221
ISBN-13: 978-3875363227
Originaltitel: Les tribulations du dernier Sijilmassi
Gebundene Ausgabe: 288 Seiten
24 Euro