© 2016 Reiner Wandler

Wenn das Volk singt

„El pueblo unido jamás será vencido“ – „Das vereinte Volk wird niemals besiegt werden“- hallte ein altes Kampflied über den Platz direkt neben dem Museum für Moderne Kunst Reina Sofia in Madrid. Es war der 25. Mai 1014. Die gerade einmal vier Monate alte spanische Protestpartei Podemos (Wir können) hatte überraschend acht Prozent bei den Europawahlen geholt. Die Feier endete mit dem Song aus dem Chile der Unidad Popular (Volkseinheit). Bereits drei Jahre zuvor hatte die Bewegung der spanischen Empörten bei ihren Platzbesetzungen gegen ein korruptes Zweiparteiensystem den Ruf aus dem Andenland für sich wieder entdeckt.

Die meisten Empörten sind lange nach 1973 geboren, als die chilenische Kombo Quilapayún die Melodie des chilenischen Komponisten Sergio Ortega Alvarado – ein Marsch, gespielt mit traditionellen Instrumenten – mit dem Text versah, in dem das Volk aufgerufen wird, sich mit mächtiger Stimme zu erheben. Und dennoch drückte Melodie und Refrain genau das aus, was Spaniens Jugend in jenen Tagen bewegte.

Das wohl bekannteste politische Lied der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde nur wenige Monate vor dem gewaltsamen Sturz des sozialistischen Präsidenten der Unidad Popular Salvador Allende durch das Militär unter Führung von Augusto Pinochet erstmals live eingespielt. Nach dem Putsch am 11. September 1973 wurde der Ruf nach dem „Vereinten Volk“ zum Symbol für die Solidarität mit dem Kampf gegen die Diktatur in Chile, der zehntausende Demokraten, Linke und Gewerkschafter zum Opfer fielen.

Quilapayún und die andere bekannte Protestband aus dem südamerikanischen Land, Inti-Illimani, gingen ins europäische Exil und zogen von Solidaritätsveranstaltung zu Solidaritätsveranstaltung. Das Konzert in Hannover am 19. Mai 1974 ist das bekannteste dieser unermüdlichen Tournee, dank der Live-LP „Solidarität mit Chile“. Inti-Illimana verewigte das Thema am Ende des Konzerts. Tausende sangen mit.

So mancher fortschrittliche Musiker fühlte sich von „El pueblo unido“ inspiriert. Der us-amerikanische Pianist Frederic Rzewski widmete dem Lied 1975 ein einstündiges Klavierkonzert unter dem Titel „The People United will never bei defeated“. Der deutsche Liedermacher Hannes Wader verfasste 1977 eine deutsche Version, die den Refrain auf Spanisch beibehielt. Und der italienische Jazzpianist Giovanni Mirabassi kreierte im Jahr 2000 eine melancholische Improvisation.

Das Spanien der Empörten war nicht der einzige Ort, wo der Ruf aus Chile zu neuem Leben erwachte. Ob Proteste auf den Philippinen, die Revolution 1979 im Iran, die Bewegung der Orangenen in der Ukraine, immer wieder erklangen mehr oder weniger freie Übersetzungen. Und selbst der Ruf der tunesischen Jugend „Das Volk will das Ende des Regimes“ bei der Bewegung 2011, die zum Sturz von Diktator Ben Ali führte und den Arabischen Frühling auslöste, erklang im gleichen Rhythmus wie einst in Chile „El pueblo unido jamás será vencido“.

 

Was bisher geschah: