© 2016 Reiner Wandler

#2084 – das Ende ist nahe

2084-Cover-VorschauBoualem Sansal entwirft in seinem neuestem Werk „2084 – Das Ende der Welt“ eine völlig kontrollierte Gesellschaft. Der Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels nimmt den Faden seines berühmten Kollegen George Orwell gekonnt auf und spinnt ihn ein ganzes Stück weiter. Was dabei entsteht ist „Abistan, ein wahrer Wahn“. Der algerische Schriftsteller Sansal prophezeit ein düsteres Reich, einen Überwachungsstaat, der keine Technik braucht. Es ist die Religion, die für die Herrschenden alles regierbar macht und dafür sorgt, dass alle regierbar bleiben.

„Ich glaube, dass das Zeitalter der Politik am Ende angelangt ist. Wir treten in die Zeit der Religion ein“, erklärt Sansal, was ihn bewegte, als er den Roman schrieb. „In der muslimischen Welt hat die Religion die Politik und alles was von ihr abhängt, wie Wirtschaft und Soziales bereits verdrängt.“ In 2084 nehmen Sansals Befürchtungen aus dem Essay „Allahs Narren – Wie der Islamismus die Welt erobert“ Form an. „2084 erzählt davon, dass die Religion der Politik den Krieg erklärt hat und alle Möglichkeiten hat, ihn zu gewinnen“, sagt Sansal.

Anders als in Michel Houellebecq’s Roman „Unterwerfung“ findet die Islamisierung der Gesellschaft bei Sansal nicht als unterschwelliger, allmählicher Prozess statt, sondern durch ein gewalttätiges Aufeinanderprallen der gesellschaftlichen Entwürfe. Der Char – der letzte große und globale Heilige Krieg – bringt die Welt von 2084 hervor. Alle huldigen Yöllah und seinem Entsandten Abi. Dieser ist der Gründer der „Gerechten Brüderlichkeit“, die das Reich Abistan mit seinem 60 Provinzen – eine für jeden Abschnitt des Korans – regiert.

Niemandem ist die Bedeutung der Jahreszahl 2084 so richtig klar. Ist es das Datum, an dem der Char gewonnen wurde? Hat sie mit dem Leben Abis zu tun? … „Wie auch immer, 2084 war ein Gründungsdatum für das Land, auch wenn niemand wusste, worauf es verwies.“

Die Zahl ist heilig, wie in Sansals Nordafrika die Jahrestage der Befreiung vom Kolonialismus. „Man addiert, subtrahiert, multipliziert“ – der Zahlenkult in Sansals Roman erinnert nicht von ungefähr an die Verherrlichung der 7 in Tunesien und damit des 7. November 1987 – dem Tag, an dem der Diktator und erstes Opfer des arabischen Frühling, Ben Ali, einst die Macht an sich riss.

Abi und das von ihm auf Geheiss Yöllahs verfasste Heilige Buch Gkabul formen das Weltbild der Bewohner Abistans. Sie reden die sansalsche Neusprak Abilang, sammeln Punkte für eiferndes Verhalten, denunzieren Nachbarn und Kollegen. Das Reisen ist ausser bei Wallfahrt verboten. Einziges Freizeitvergnügen sind die großen Gebete, Opferfeste, Selbstauspeitschungen und Massenhinrichtungen von Renegaten und Ungläubigen im Stadion. Riesige Bilder Abis hänge überall. Ruinen aus dem Char werden bestaunt, wie einst im Libyen Gaddafis.

Diese Welt richtet sich – ähnlich wie die von 1984 – nach Leitsätzen. Dem orwellschen Glaubensbekenntnis – „Krieg ist Frieden“ „Freiheit ist Sklaverei“ und „Unwissenheit ist Stärke“ fügt Sansal eigene Leitsätze hinzu: „Tod ist Leben“ – „Lüge ist Wahrheit“ und „Die Logik ist das Absurde“.

Es ist in dieser Welt der absoluten Kontrolle und Gehirnwäsche, in der Ati, ein Beamter aus der Hauptstadt Qodsabad, dennoch zu zweifeln beginnt. Weit ab, in einem isolierten Sanatorium in den Bergen, wo er eine Krankheit auskuriert, hat er Zeit, viel Zeit nachzudenken. Er hört die Gerüchte von einer verbotenen Straße über die Berge und einer Grenze. Das wirft sein gesamtes Weltbild um. „Die Existenz einer Grenze war erschütternd. Die Welt war also geteilt. (…) Was gibt es auf der anderen Seite?“

Einmal dem Zweifel und der Reflexion verfallen, sieht Ati überall Zeichen, die belegen, dass nicht alles stimmen kann, an was er bisher glaubte. Wieso gibt es Ghettos mit Renegaten? Woher kommt die Technik zur Kriegsführung gegen eben sie und woher die Fahrzeuge der Mächtigen und Reichen, wenn sie doch niemand in Abistan produziert?

Zurück in Qodsabad beginnt Ati nachzuforschen, trifft auf einen Sammler von Gegenständen aus der Zeit vor Abistan. Dieser pflegt Gebräuche und frönt Genüssen längst vergangener Zeiten. Ati lernt einen Archäologen kennen, der die Ruinen eines Dorfes erforscht, das – obwohl vom Regime geschickt umgedeutet – aus einer anderen Kultur stammen muss. Ati dringt schließlich in die verbotene Stadt mit ihrem Regierungsbezirk und der von überall her sichtbaren, strahlenden Pyramide vor, blickt hinter die Kulissen und wird in Machtkämpfe der Clans um die Brüder aus der Führung verwickelt.

2084 ist trotz dieser Handlung eines der nüchternsten Werke Sansals. Anders als “Der Schwur der Barbaren” oder “Das verrückte Kind aus dem hohlen Baum” fehlen die aus Lateinamerika entlehnten Stilmittel des magischen Realismus völlig. Über lange Strecken ist 2084 viel mehr ein dicht gewobenes, philosophisches Essay, das der Frage nachgeht, wie Zweifel, wie Widerspruch entsteht und was diese Opposition – die im sansalschen Sinne immer Opposition zu allem zu sein hat – erreichen kann.

Ati sinniert über das Regime und den Glauben; kommt zum erstaunlichen Schlüssen: Niemand wird zum Glauben gezwungen, stellt er fest. „Man zwang (…) das Verhalten des perfekten Gläubigen auf, das ist alles.“ Es geht also nur um Formen, um Äußerlichkeiten und nicht um die Verfolgung des Unglaubens als solchen. Doch warum? Die Antwort, zu der Ati kommt, lässt sein gesamtes Weltbild wanken. „Der Mensch kann sich nur vom Glauben befreien, indem er sich auf einen anderen stützt. (…) Denn wenn man an eine Idee glaubt, kann man auch an eine andere glauben, an ihr Gegenteil zum Beispiel, und aus ihr ein Schlachtross machen, um die erste Illusion zu bekämpfen.“ Glauben kann also den Zweifel nähren. Denn „man kennt das Gute nur, wenn man vom Bösen weiss.“ Der Gläubige führt – so die Schlussfolgerung Atis – ein „Leben im Gegensatz antagonistischer Kräfte“. Und das ist gefährlich für das Regime: Denn „in jedem wird ein seltsamer und widerspenstiger Geist eingepflanzt“. Ati entwickelt ein Gespür für Konzepte wie Freiheit und Demokratie.

Dieser Ati in der Abgeschiedenheit des Sanatoriums erinnert nur allzu oft an den Beamten Boualem Sansal der 1990er Jahre – eingeschlossen in seinem Haus in der Kleinstadt Boumerdes in den Jahren des blutigen, algerischen Konfliktes. Damals, als die Gewalt überall drohte und er nicht zu Arbeit in das nur etwas mehr als eine halbe Autostunde entfernten Industrieministerium in Algier fahren konnte, entdeckte Sansal das Schreiben. Er nutze die Zeit zum Nachdenken, verarbeitete das was sein Leben und damit sein bisheriges Erleben nach dem Unabhängigkeitskrieg gegen Frankreich war: „Die Entwicklung Algeriens, nach der militärisch, polizeilichen Diktatur der 60er und 70er Jahre hin zur Explosion des Islamismus in den 80ern, dem Bürgerkrieg in den 90ern bis zum heutigen Hybridsystem, dem Ergebnis eines abgekarteten Spieles zwischen einem Polizeiregime, das den Staat in der Hand hält, und den Islamisten, die die Bevölkerung kontrollieren.“

„Das schlechte hat in Algerien gesiegt“, lautet Sansals Schlussfolgerung, die ihn immer seit damals zum Schreiben treibt. „2084 greift alle Themen auf, die wir in muslimischen Ländern vorfinden: Die Religion, die Clans, die Stammesstrukturen, die Gewalt, die Unordnung …“, erklärt Sansal, und lässt auch Ati sich in dieser Welt der rivalisierenden Gruppen, dem ständigen Chaos, das doch für Stabilität sorgt, verstricken.

„Für die Macht bestand das Mittel, ihren Konservatismus zu bewahren, darin (…) selbst diese Opposition zu schaffen und sie dann von echten Oppositionellen tragen zu lassen, die sie schaffen und notfalls ausbilden und dann damit beschäftigen würde, sich vor ihren eigenen Opponenten zu schützen, Ultras, Dissidenten, ehrgeizige Leutnants, mutmaßliche Erben, die schnell zu einem Ende kommen wollen und von überall wie durch Wunder auftauchen würden. Einige Verbrechen hier und da würden helfen, die Kriegsmaschinerie in Ganz zu halten. Sein eigener Feind sein ist die Garantie, in jedem Fall zu gewinnen.“

Sansal hat längst den Glauben an eine echte Veränderung hin zur Freiheit verloren. „Die Diktatur kann den Zweifel nicht verhindern, aber das Volk nutzt diese Fähigkeit zu zweifeln nicht immer in positiven Sinne.“, begründet Sansal seinen Pessimismus, der in 2084 zum Ausdruck kommt. „In der muslimischen Welt zweifeln die Menschen, wie überall sonst auch, aber sie werfen sich dann der Religion noch mehr in die Arme, werden fanatisch.“

So verwundert es nicht weiter, dass 2084 keine wirkliche Lösung, keinen Ausweg aufzeigt. Auch Ati verliert schließlich die Hoffnung auf eine kollektive Veränderung und sucht die Grenze, den Weg in die Welt jenseits von 2084, einen Schritt den Sansal für sich persönlich bisher immer wieder verneint hat.

 

Boualem Sansal

2084- Das Ende der Welt

Merlin Verlag

24 Euro

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