Wer ist die Person, die jeder bei einem Familientreffen fürchtet? Die Schwiegermutter, lautet in den meisten Ländern die Antwort. Nicht so in Spanien: Hier ist es der Schwager, «el cuñado» – oder umgangssprachlich «cuñao» – gesprochen «kunjau».
Seine grössten Auftritte hat er an Weihnachten, bei Geburtstagen und im Sommer, wenn der unausweichliche Besuch im Dorf der Eltern ansteht. Das Ganze verläuft immer nach dem gleichen Muster. Der Schwager weiss auf alles eine Antwort, und er weiss es vor allem besser. Kaum legt der Mann seiner Schwester ein eben erstandenes Smartphone neuester Generation auf den Tisch, reagiert der Schwager schon. Er hat natürlich eines, das besser ist; er hat es billiger erstanden, hat die besten Apps, nutzt den besten Tarif. «Ich habe einen Freund bei der Telefongesellschaft, nachher gebe ich dir seine Nummer», verkündet er stolz. Und wenn er kein neueres Smartphone hat, ist er dennoch nicht um eine vernichtende Antwort verlegen. Das Urteil lautet dann ganz einfach: «Wofür brauch ich so was?!»
Sobald das Essen aufgefahren wird, kennt der Schwager bessere Rezepte, weiss, wo Fleisch, Fisch, Meeresfrüchte billiger und besser zu erstehen sind. «Nicht schlecht, aber nachher erzähl ich dir, wo du den besten Schinken kaufen kannst.» Oder: «Ich habe da einen Freund in Galicien, der verkauft mir die Langusten für zwei Euro das Kilo.»
Auch wenn es um Politik geht, lässt der Schwager keine abweichende Meinung gelten, wählt immer anders als seine Schwester und deren Mann… Und er kennt jedes Detail der nationalen und internationalen Politik: «Das mit dem Krieg in der Ukraine hab ich dir schon vor drei Jahren gesagt.»
Und zu allem Überfluss ist er auch noch furchtbar erfolgreich. «Heute reden wir mal nicht über Arbeit», lautet einer seiner beliebten Sätze. Den Rest des Essens ist dann nur von einem die Rede. Wie gut es für den cuñao bei seinem neuen Job läuft. Wäre er nicht, das Unternehmen würde zusammenbrechen.
Kurz um, der cuñao ist perfekt. Er ist so etwas wie ein wandelndes Lexikon, eine Verbraucherberatung und ein Lebenskünstler in einem. Und vor allem ist er eine Nervensäge. «Lass mal, ich mach das…» – Wie erkläre ich dir das, damit du es auch verstehst?» – «Keine Widerrede. Ich weiss das.», sind nur einige seiner Lieblingssätze. Es geht, daran besteht kein Zweifel, darum, wer die Rolle des Alpha-Männchens am Tische einnimmt.
Da hilft nur bitterböser Humor. Was wäre Spanien ohne die Witze über den cuñao? «Wer hat JFK ermordet: Frag deinen Schwager.» – «Dein Schwager hat einen Freund, der verwandelt in einer Stunde einen PC in einen Mac und verlangt dafür gerade einmal fünf Euro.» – «Du hast drei Uni-Abschlüsse. O. k. Aber dein Schwager kennt die Aufstellung von Real Madrid im Jahr 1983 auswendig.» Und: «Dein Schwager macht einen witzigen Kommentar, den du vor Wochen bei Twitter veröffentlicht hast.»
Längst gibt es ganze Webseiten über den Schwager. So erklärte die bei den letzten Kommunalwahlen in Madrid erfolgreiche Bürgerliste rund um die neue Protestpartei Podemos ausführlich ihr Programm, «sodass es auch dein Schwager versteht». Ein anderer Internetauftritt erklärt die kleinen Kniffe eines Smartphone-Betriebssystem für den Schwager. Und mehrere Veröffentlichungen setzen sich mit Themen «Für was ist ein Schwager gut?» oder «Wie wirst du zum perfekten Schwager?» auseinander – nicht nur online, sondern auch in Buchform.
Einen Schwager gibt es übrigens in den besten Familien. Auch König Felipe VI. hat einen. Der ehemalige Handballnationalspieler Iñaki Urdangarín ist mit Infantin Cristina verheiratet. Und König Felipe hat es wahrlich nicht leicht mit ihm. Er steht – zusammen mit seiner Ehefrau – wegen Korruption vor Gericht. Er soll für öffentliche Aufträge Millionen an Steuergeldern erhalten haben, ohne nennenswerte Gegenleistung. Ganz Spanien spekuliert darüber, wie königliche Familientreffen wohl aussehen mögen. Eines ist sicher. König Felipe wird die Familienfeiern schon bald ohne seinen Schwager verbringen. Diesem drohen bis zu 20 Jahre Haft. So mancher in Spanien beneidet den Monarchen dafür.
Twitter, Facebook, das sind die kleinen Freiräume, wohin sich viele bei diesen unausweichlichen Familientreffen flüchten. Das Schlagwort #cuñao übertrifft alles andere an Heiligabend. Die grösste Tageszeitung Spaniens, El País , hat dies untersucht. Die Grafik ist beeindruckend: Pünktlich zum Abendessen schnellt die Linie steil nach oben. «Wer hat JFK ermordet? Frag deinen Schwager», heisst es da. Oder: «Heute erklärt mir mein Schwager, wie man eine Languste öffnet. Wie jedes Jahr.» – «Mein Schwager: ‹Ich bin kein Fachmann, aber…›», lauten andere.
Zum Schluss noch eine persönliche Anmerkung. Auch ich habe einen Schwager. Ich muss gestehen, auch ich klage manchmal über ihn. So viel Integration muss sein. Und auch ich lese mit Genuss Witze und Tweets über den cuñao. Bis ich auf Folgendes stiess: «Kleine Anmerkung: Für deinen Schwager bis du der Schwager.» Mmmmm. Treffer und versenkt.