© 2015 Reiner Wandler

Ausnahmezustand in Tunesien

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Der tunesische Präsident Béji Caid Essebsi spricht Klartext: „Das Land befindet sich in einer besonderen Form des Krieges“, erklärte der 88- jährige, vergangenen Winter gewählte Staatschef in einer Fernsehansprache am Samstagabend und verhängte einen 30-tägigen Ausnahmezustand. Er regierte damit nach mehr als einer Woche auf den blutigen Überfall auf das Strandhotel Imperial Marhaba in Sousse durch einen bewaffneten radikalen Islamisten, bei dem 38 Menschen, meist britische Touristen, ums Leben gekommen waren.

„Wenn sich die Ereignisse von Sousse wiederholen, kollabiert das Land“, warnt Essebsi. Zu dem Attentat von Sousse hatte sich, wie bereits im März zum Überfall auf das Museum Bardo in Tunis, der den Islamischen Staat (IS) bekannt. Der Ausnahmezustand gibt den Sicherheitskräften besondere Befugnisse. Hausdurchsuchungen werden erleichtert, Veranstaltungen und Versammlungen können verboten, Presseberichte zensiert werden, sofern sie die „öffentliche Ordnung“ des Landes gefährden. Neben der Gefahr durch Dschihadisten erwähnte Essebsi auch die unzählige Streiks in Tunesien.

Erst März 2014 war der Ausnahmezustand aufgehoben worden. Er wurde von Diktator Ben Ali wenige Tage vor seinem Sturz am 14. Januar 2011 verhängt worden. Die Übergangsregierungen sowie die erste frei gewählte Regierung erhielten ihn aufrecht, bis das Land eine neue Verfassung hatte. Die Rückkehr zu den Sonderbefugnissen für die Polizei ruft bei so manchem Sorge hervor. „Der Ausnahmezustand kann ein hervorragendes Unterdrückungsinstrument sein“, warnt der tunesische Politikexperte und Journalist Selim Kharrat gegenüber der französischen Agentur AFP. Er fragt sich, warum der Ausnahmezustand erst acht Tage nach den Anschlägen verhängt wurde.

Präsident Essebsi versucht die Befürchtungen, die Maßnahmen könnten die erst vor kurzem gewonnenen Freiheiten erheblich einschränken, zu zerstreuen. Er rief die Presse aber zur Zurückhaltung auf. Alle müssten die „außergewöhnlichen Umstände“ berücksichtigen, die das Land derzeit durchlebe, „um nicht eine Situation zu schaffen, die den Plagen hilft, die wir bekämpfen“, sagte Essebsi.

Der Ausnahmezustand ist eine Flucht nach vorn. Denn in der vergangenen Woche wurden immer mehr Details des Hergangs des terroristischen Überfalls in Sousse bekannt. Die Polizei kam viel zu spät an den Tatort. Der Schütze – ein 23-jähriger Student, der vermutlich in Terrrorcamps im benachbarten Libyen ausgebildet worden war – konnte völlig ungestört eine halbe Stunde mit einem Schnellfeuergewehr Jagd auf Touristen machen. Der erste Beamte, der vor Ort eintraf, hatte Angst und griff nicht ein. Er gab seine Pistole an einen Hotelangestellten weiter. Die Waffe hatte Ladehemmungen. „Die Reaktionszeit der Polizei – da lag das Problem“, gab Regierungschef Habib Essid am Freitag gegenüber der BBC zu. Mittlerweile wurden acht weitere vermutliche Komplizen des Todesschützen verhaftet, darunter eine Frau. 1.400 Beamte sind abgestellt worden, um Strände und Hotelanlagen zu schützen.

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Meine Meinung

Ausnahmezustand

Ausnahmezustand! Ein schreckliches Wort, eine schreckliche Massnahme in einem Land, das gerade eben seine Freiheiten erkämpft hat. Doch stellt sich die Frage: Hat Tunesien überhaupt eine andere Möglichkeit? Darauf gibt es keine leichte Antwort.

Der Feind oder – sollte man besser sagen – die Feinde sind übermächtig. Es sind diejenigen, die mit Gewalt versuchen, die demokratischen Errungenschaften zu zerstören. Sie sind zu allem bereit. Das zeigen die Anschläge auf das Strandhotel in Sousse vor neun Tagen und der Überfall auf das Museum Bardo in Tunis vor einem viertel Jahr.

Hinzu kommen all diejenigen, die diese Gruppen direkt oder indirekt unterstützen. Es sind die konservativen Kräfte in der arabischen Welt, die ein positives Beispiel, ein Land, das zeigt, dass Demokratie und Islam nicht unvereinbar sind, einfach nicht zulassen können. Und es sind auch diejenigen, die auf die großen Herausforderungen unserer Zeit nur mit militärischen Einsätzen – wie etwa in Libyen – zu reagieren wissen. Auch sie gefährden – zumindest indirekt – Tunesien.

Das kleine Land am Mittelmeer steht vor einer großen Aufgabe. Der Ausnahmezustand muss weise und bedacht eingesetzt werden. Die Versuchung seitens der Regierung radikale Islamisten und gemässigte Oppositionellen über einen Kamm zu scheren, Terroristen und streikende Arbeiter gleichermassen zu warnen und zu unterdrücken, ist nicht von der Hand zu weisen.

Genau das aber darf nicht geschehen. Denn damit würden die bewaffneten Islamisten ihr Ziel erreichen. Sie würden Tunesien endgültig in einen Krieg zwingen, wie ihn das benachbarte Algerien im letzten Jahrzehnt des vergangenen Jahrtausend durchleiden musste.

Die große Stärke Tunesiens war bisher die wachsame und streitbare Zivilgesellschaft. Ihre Freiheiten müssen gewahrt und sie muss in den Kampf gegen die Gewalt eingebunden werden. Nur so ist das zu retten, was als leuchtendes Beispiel für eine ganze Region und für eine ganze Generation steht.

Was bisher geschah: