© 2014 Reiner Wandler

Marokko und EU – ungleiche Partnerschaft

Die EU und Marokko sind dabei, eine umfassende Freihandelszone zu schaffen. Schon die ersten Schritte zeigen, was die ungleichen Kräfteverhältnisse dabei in manchen Branchen des nordafrikanischen Landes anrichten werden.

Seit einem Jahr verhandelt Marokko mit der Europäischen Union hinter verschlossenen Türen eine „Vertiefte und Umfassende Freihandelszone“ mit dem Kürzel ALECA. Länder wie Tunesien, Ägypten oder Jordanien sollen folgen. Sie alle sollen endgültig in den europäischen Markt eingebunden werden. „Es handelt sich nicht um ein einfaches Handelsabkommen“, erklärt der Staatssekretär für Außenhandel in Rabat, Mohamed Abbou. Vielmehr sei es „ein Gesell- schaftsprojekt, das die Produktionsstandards, den Handel und die Entwicklung des Landes verbessert“.

Was genau verhandelt wird, darüber erhalten selbst die ParlamentarierInnen keine Auskunft. Beratungen mit UnternehmerInnen und Gewerkschaften pflegt die Regierung keine. Unmut regt sich. Nagib Akesbi, Wirtschaftswissenschaftler an der Hochschule Hassan II für Landwirtschaft in Rabat, sieht in Freihandelsabkommen „eine Be- drohung der Souveränität des Staates und für die soziale Stabilität Marokkos“. Das Außenhandels- defizit steige unaufhörlich. Zwischen 2006 und 2011 hat sich der Betrag mehr als verdoppelt und liegt bei 24 Prozent der Wirtschaftsleistung. 39 Prozent davon stammen aus dem Handel mit der EU. Der Grund: Von 2005 bis 2012 nahm das HandelsvolumenzwischenMarokkoundderEU um 24 Prozent zu. Im gleichen Zeitraum stiegen die Importe aus der EU um 78 Prozent.

Marokko und die EU haben seit 1969 Freihandelsabkommen unterschiedlicher Art. Seit 2000 gibt es ein Assoziierungsabkommen. Seit 2008 befindet sich Marokko im „fortgeschrittenen Status“. Außerdem bestehen Abkommen für Landwirtschaft und Fischfang. Die EU ist der wichtigste Handelspartner Marokkos, 47,5 Pro- zent der Importe kommen aus der EU und 55 Prozent der Exporte gehen auf die Nordseite des Mittelmeeres. „Die Zölle für den Import von industriellen Produkte aus der EU nach Marokko wurden abgeschafft, während die EU umgekehrt Schranken wie Quoten, Kontingente, Mindestpreise oder zeitliche Beschränkungen für Pro- dukte errichtet hat, bei denen Marokko einen Wettbewerbsvorteil hat“, analysiert Akesbi die Ergebnisse der bisherigen Abkommen. Jetzt sol- len auch die letzten Schranken fallen, alle Be- reiche liberalisiert werden. Die marokkanische Technologie-, Informations- und Kommunikationsbranche wird dadurch – das muss selbst das holländische Wirtschaftsinstitut Ecorys, das von Brüssel mit einer Fallstudie beauftragt wurde, eingestehen – Marktanteile verlieren, sobald europäische Unternehmen in Marokko leichter verkaufen können. Spezialisierte Arbeitsplätze werden auf der Strecke bleiben. Das kann nicht gut gehen: Unter Jugendlichen und jungen AkademikerInnen ist bereits jetzt jeder Zweite arbeitslos. Bei großen öffentlichen Bauprojekten haben marokkanische Firmen schon seit dem Assoziierungsvertrag kaum eine Chance. Die Aufträge gehen meist an Unternehmen aus der EU. „Dank der Krise kommen europäische Unter- nehmen hierher“, zitiert die marokkanische Wirt- schaftszeitung „L’Economiste“ einen örtlichen Bauunternehmer. Die EuropäerInnen kämen mit Material,dasdankfrühererGroßaufträgeinder EU „längst abgeschrieben“ sei. „Sie erobern die rentabelsten Märkte, machen das Preisniveau kaputt“, erklärt der Unternehmer weiter. „Dank der Krise kommen europäische Unternehmen nach Marokko, erobern die rentabelsten Märkte und machen das Preisniveau kaputt.“

Auch eine der traditionellen marokkanischen Branchen – Leder, Textil und Bekleidung – wird leiden, sobald die Einfuhrschranken fallen. Eu- ropäische Anbieter, die in Asien produzieren, werden stärker präsent sein. 2,5 bis 4 Prozent der 180.000 Arbeitsplätze werden wohl verlo- ren gehen. Auch in der Landwirtschaft macht sich Sorge breit. Zwar wird durch die Liberali- sierung des Marktes der Export von Fisch, Obst und Gemüse nach Europa steigen, doch wird Marokko verstärkt Fertigprodukte sowie Fleisch, Öl, Zucker und EU-subventionierte Milchproduk- te einführen. Der Pro-Kopf-Konsum von importierten landwirtschaftlichen Produkten wird sich verdoppeln, wobei jener nationaler Produkte um 20 Prozent sinken wird. Die Lebensmittelversorgung Marokkos wird somit immer stärker vom Ausland abhängen. Bereits jetzt wird dreimal soviel importiert wie exportiert.

Das bestehende Abkommen für landwirtschaftliche Produkte führt zudem zu einer Konzentration. Denn nur die Großen haben die Mittel, sich für den Exportmarkt zu qualifizieren, der über Quoten reguliert ist. Nicht wenige dieser Unternehmen gehören ausländischen Investo- ren. Eine vollständige Liberalisierung bringt die KleinproduzentInnen unter zusätzlichen Druck. Arbeitsplätze in strukturschwachen Regionen stehen auf dem Spiel. „Wenn sich Marokko an die EU-Normen anpasst, läuft das Land Gefahr, Teile des Geschäfts mit anderen wichtigen Han- delspartnern wie etwa Indien zu verlieren“, befürchtet Wirtschaftswissenschaftler Akesbi.

Zuerst erschienen in: NordSüdNews

 

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