© 2014 Reiner Wandler

Kurort Madrid

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Es sind die Sommermonate, die meine spanische Wahlheimat mit meiner deutschen Geburtsstadt verbinden. „Madrid im August, mit Geld und ohne Familie, Baden-Baden“, lautet ein Spruch, der dem konservativen Politiker und Ministerpräsidenten aus dem 19. Jahrhundert, Francisco Silvela, zugeschrieben wird. Der Satz nimmt Bezug auf die Ruhe in der spanischen Hauptstadt in der Urlaubszeit. Denn die Millionenstadt stirbt im August fast völlig aus. Alle fahren an die Küste, in die Berge oder wenn es der Geldbeutel nicht anders erlaubt, ganz einfach in ihr Dorf. Fast jeder Madrilene hat so eines, denn die meisten der knapp drei Millionen Einwohner stammen von innerspanischen Einwanderern ab. Madrid wuchs in der Nachkriegszeit wie wenige Städte in Europa.

Pech haben die echten Madrilene, deren Großeltern – so will es die Definition – alle in der Stadt geboren wurden. Wenn sie kein Geld haben, bleiben sie eben in der Stadt, in ihrem Baden–Baden. Madrid wirkt im August gemächlich, wie der Kurort am Rande des Schwarzwaldes das ganze Jahr über, aber ohne so langweilig wie diese zu sein. Es sind die kleinen Dinge, die es dann zu entdecken gibt. Die Parks sind leer, die Schwimmbäder und Gartenkneipen nicht überfüllt. Die Schlangen am Kino oder vor den Museen sind deutlich kürzer als sonst.

Und im August feiern die historischen Stadtteile in der Innenstadt ihre Feste. Echte Madrilenen sind dann unter sich. Sie trinken Sangría oder Limonada, essen eingelegte Auberginen oder Bocadillos mit fritierten Tintenfischringen und tanzen ihren Chotis. Es ist der madrilenischste aller Tänze. Der Mann bleibt unbeweglich, die Frau tanz und dreht ihren Gemahlen dabei auf der Stelle. Der Chotis zeigt, wie und vor allem dank wem die spanischen Hauptstadt funktioniert.

„Mit Geld und ohne Familie“ trifft auf einen ganz besonderen Typ von „Baden-Baden-Urlaubern“ zu, die Rodríguez. So werden in Madrid diejenigen genannt, die ihre Familie in das Ferienhaus in die nahegelegenen Berge oder an die Küste verfrachten, während sie in der Stadt die Stellung auf der Arbeit halten. „Estar de Rodríguez“ – „als Rodríguez leben“ ist eine Mischung aus Einsamkeit und Freiheit. Die Laster der Hauptstadt rufen und wollen zusammen mit anderen Rodríguez genossen werden, während per Telefon jeden Abend der Gemahlin berichtet wird, wie sehr sie das Familienleben vermissen: „Nächstes Jahr komm ich ganz bestimmt mit!“

Während es die Rodríguez nach wie vor gibt, ist das was die Literatur über die verarmte Mittelklassefamilien berichtet, wohl eher Geschichte. Nicht dass es keine verarmte Mittelschicht mehr gäbe – sie ist dank Krise und Sparpolitik größer denn je – doch sie versteckt sich nicht mehr, wie früher. Im 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts täuschte so manche ehrenwerten Familie Wohlstand vor. In der Sommerzeit fällt es besonders schwer den Schein zu wahren. Schließlich wird erwartet, dass es standesgemäß in den Urlaub geht. So manche Familie soll sich ganz einfach zu Hause eingeschlossen haben. Die Läden geschlossen, das Licht aus. Ende August dann – nach einem Monat ohne Madrid und ohne Baden-Baden – erzählten sie in schillernden Farben von ihrem Strandaufenthalt.

Das geht natürlich nur, wenn kein Nachbar am gleichen Ort seinen Sommer verbringt. Und das ist heute mehr als unwahrscheinlich. Denn Madrid hat seine eigenen Strände. Sie liegen in Valencia und Alicante. Je nach Einkommen ist es das eine Dorf oder das andere, in dem Tausende von Madrilenen die heißen Monate verbringen. So mancher kommt zurück und hat die halbe Fabrik oder das halbe Büro an der Uferpromenade oder im Stau auf dem Rückweg getroffen.

Natürlich gibt es auch die Madrilenen, die richtig vereisen. Vor allem lateinamerikanische Länder und Asien sind angesagt. Bei ihnen ist ein ganz besonderes Phänomen zu beobachten. Kaum landet der Flieger wieder in Madrid-Barajas, bricht tobender Applaus aus. Madrilenen sind glücklich, wenn sie wieder zu Hause sind. Wie heisst das Motto der Stadt doch so schön: „Von Madrid in den Himmel und dort ein Loch in den Wolken, um auf die Stadt herunterzuschauen.“ Baden-Baden kann bei so viel Lokalpatriotismus nicht mithalten. Der einzige Satz, der jedem Einwohner bekannt ist, spricht nicht allzu gut von der Kurstadt. „Wenn die Welt untergeht, gehe ich nach Baden-Baden, denn dort passiert alles acht Tage später“, lautet der Satz, der Bismarck zugesprochen wird. Diese ist Ehrenbürger des Schwarzwaldstädtchens, da er das machte, wovon sein spanischer Amtskollege Silvela nur träumte. Urlaub in Baden-Baden – mit Geld aber auch mit Familie. Ob er sich insgeheim einen Sommer in Madrid wünschte, ist nicht überliefert.

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