„Das Gesetz ist für alle gleich“, bekräftigte der mittlerweile abgedankte, spanische König Juan Carlos in seiner Weihnachtsansprache 2011. Seine Untertanen freilich verlieren immer mehr den Glauben, dass dem wirklich so ist. Fast täglich gibt es neue Nachrichten, die von juristischer Sonderbehandlung zeugen. Spanien hat ein 144 Jahre altes Gesetz, das dem Justizministerium das Recht einräumt, Verurteilte zu begnadigen. Der konservative Minister und ehemalige Bürgermeister von Madrid, Alberto Ruiz Gallardón, macht reichlich Gebrauch davon. Allein in dieser Legislaturperiode wurden über 800 rechtskräftig Verurteilen per Dekret ihre Strafen ganz oder teilweise erlassen. Es sind nicht die Hunderte von Kleinkriminellen, die dadurch nicht hinter Gitter müssen, die des Volkes Zorn erregen. Es geht um Korruptionsfälle und Straftäter mit guten Beziehungen zur regierenden Partido Popular (PP).
Die letzte Begnadigung galt dem Sohn eines konservativen Lokalpolitiker. Der junge Beamte der Polizeitruppe Guardia Civil bestieg mit einem Freund einen Nahverkehrszug im nordspanischen Asturien. Die beiden setzten sich neben eine 60-jährige Frau. Während der Polizist mit dem Handy filmte, begann sein Freund die Passagierin sexuell zu belästigen. Trotz ihres Alters würde sie ihn erregen, sagte er, und beschrieb ausführlich an welche sexuellen Praktiken er so denke. Gleichzeitig fasste er ihr zwischen die Beine. Der junge Polizist hielt mit dem Handy drauf und lachte sich dabei krank. Als ein weiterer Passagier einschritt schlugen sie ihn und flüchteten. Das Justizministerium hob die Geldstrafe und die sechs-monatige Dienstsuspendierung auf.
Auch wenn es Tote gibt, steht einer Begnadigung nichts im Wege, wenn nur das richtige Anwaltsbüro für den Verurteilten arbeitet. So im Falle eines Geisterfahrers der einen Unfall mit einem Todesopfer verursachte. Die Verteidigung übernahm die Kanzlei eines ehemaligen hohen Mitarbeiters aus dem Justiz- und Innenministerium, in der auch der Sohn von Justizministers Gallardón arbeitet.
Besonders gerne werden Politiker, die sich in Zeiten des Baubooms ihre Taschen füllten, mit Begnadigung bedacht. 2012 waren es von 33 Verurteilte sechs, die dank Gallardón die Strafe nicht antreten mussten. Vier davon gehörten der PP an. Hohe Beamte, die in die Staatskasse griffen erfreuen sich ebenso der Sonderbehandlung wie Bauunternehmer, die gegen allerlei Auflagen verstoßen. So der zu zu drei Jahren verurteilte Bauunternehmer und Präsident des Fußballvereins UD Las Palmas, Miguel Angel Ramírez Alonso. Er wurde begnadigt, nachdem er 50.000 Euro an Gallardóns PP spendete.
Der grosszügige Umgang mit Verurteilten aus dem Staatsapparat und der Macht- und Wirtschaftselite gilt nicht nur für Gallardón sondern auch für seine Vorgänger, egal welcher Couleur. Seit dem Jahr 2000 wurde insgesamt 200 wegen Korruption verurteilten Politikern die Strafe erlassen.
Polizeibeamte, die wder Folter und Misshandlung schuldig befunden wurden, werden ebenso begnadigt, wie Unternehmer oder Banker. Selbst der für den Putschversuch 1981 verantwortliche General Alfonso Armada wurde einst begnadigt. Das gleiche gilt für den ehemaligen sozialistischen Innenminister José Barrionuevo und sein Staatssekretär für Sicherheit Rafael Vera, beide Verantwortlich für die Todesschwadronen GAL, die in den 1980er Jahren unter Regierungschef Felipe González Jagd auf Etarras und deren vermeintlichem Umfeld machten.
Nicht immer ist das Justizministerium so großzügig. So wird derzeit gegen rund 300 Gewerkschafter ermittelt, die bei verschiedenen Ausständen an Streikposten teilgenommen haben. Insgesamt drohen ihnen mehr als 120 Jahre Haft. Darunter befinden sich acht Betriebsräte und Vertrauensleute des Airbus-Werkes vor den Toren Madrids. Die Staatsanwaltschaft fordert für jeden von ihnen 8 Jahre und 3 Monat Gefängnis, weil sie währende eines Generalstreiks den Zugang zum Werk blockierten.
In vier der 120 Fällen kam es bereits zu Verurteilungen. Im südspanische Granada sollen zwei Mitglieder der größten Gewerkschaft des Landes CCOO für jeweils drei Jahre hinter Gitter. Sie hätten die Rechte der Arbeiter verletzt, in dem sie Arbeitswillige davon abhalten wollten, den Arbeitsplatz zu betreten. In Asturien wurden zwei Arbeiter der öffentlichen Schwimmbäder ebenfalls zu jeweils drei Jahren verurteilt. Die beiden Schwimmlehrer hatten während eines Streiks rote Farbe und Seife in ein Becken gekippt. Trotz zehntausender Unterschriften, die von Minister Gallardón eine Begnadigung fordern, reagiert dieser bisher nicht. Die vier warten auf das Schreiben, das den Haftantritt anordnet./Foto: La Moncloa