Tunesien steht unter Schock. Am Mittwoch früh wurde der bekannte Anwalt und Oppositionspolitiker Chokri Belaid vor seiner Wohnung in der Hauptstadt Tunis ermordet. Auf den 48-jährige Generalsekretär der marxistische – panarabistischen Vereinigten Partei der Demokratischen Patrioten (PPDU) und scharfen Gegner der regierenden Islamisten wurde – so seine Nachbarn – vier Mal geschossen. Belaid verstarb kurz darauf im Krankenhaus. Am Attentat sollen zwei Täter beteiligt gewesen sein. Der ein – im traditionellem Kapuzengewand – habe geschossen, der andere – mit einem Motorrad – die Flucht gewährleistet.
© 2013 Reiner Wandler
#ChokriBelaid Tunesischer Oppositioneller ermordet
Belaid, dessen PPDU seit einigen Monaten dem linken Bündnis „Volksfront“ (FP) angehört, kritisierte die Troika, die Drei-Parteien-Koalition rund um die islamistische Ennahda, immer wieder scharf. Erst am Wochenende hatte Belaid der Regierung und dem Innenministerium vorgeworfen, Gewalt gegen Demokraten nicht nur zuzulassen, sondern gar politisch zu fördern. „Jedes Mal wenn die Troika auf ein Problem stößt, wird ein Zeichen gegeben, damit Gewaltakte stattfinden“, erklärte Belaid.
Die Angehörigen und Freunde Belaids sehen die Verantwortung für den Mord bei der Regierung und deren Umfeld: „Ich beschuldige Ennahda und (deren Führer) Ghannouchi persönlich des Mordes an meinem Mann. Das Innenministerium hat aufgehört die Tunesier zu beschützen“, rief Ehefrau Besma Belaid zwischen Wut und Trauer vor laufenden Kameras. Auf ihrem Kleid waren Flecken des Blutes ihres Mannes zu sehen. Auch Belaids Anwaltskollege und Weggefährte in der FP, der Kommunist Hamma Hammami, beschuldigt die Regierung: „Der Mord wurde von Profis ausgeführt“, ist er sich sicher.
In den vergangenen Monaten kommt es in Tunesien immer wieder zu Übergriffen auf Lokale und Veranstaltungen der Opposition, der Gewerkschaften, Gruppierungen der Zivilgesellschaft, sowie Frauenorganisationen. Dahinter stecken – so die Opposition – die Liga zum Schutz der Revolution, der Ennahda nahestehende gewalttätige Milizen. Wenn die Angegriffenen bei der Polizei um Hilfe und Schutz nachsuchen, werden sie einfach ignoriert. So auch Belaid. Am Wochenende wurde eines seiner Meetings überfallen. Die nur wenige Meter entfernt stationierte Polizei rückte trotz mehrere Anrufe beim Innenministerium nicht aus.
Der Ennahda-Ministerpräsident Hamadi Jebali versuchte die Wogen zu glätten und verurteilte den Mord umgehend. Er nannte das Attentat in einem Radiointerview „ein Verbrechen gegen Tunesien“. Gleichzeitig rief er die Bevölkerung zur Besonnenheit auf und warnte vor Chaos und Unruhen. Vergebens.
Kaum wurde die Nachricht vom Tod Belaids bekannt, kam es überall im Land – und selbst vor der tunesischen Botschaft in Paris – zu spontanen Kundgebungen. In Tunis versammelten sich mehrere Tausend Personen vor dem Innenministerium auf der Avenue Bourguiba. Schulen und Unis schlossen.
Die Menschen riefen wie einst vor zwei Jahren, als die Demonstrationen stattfand, die den Diktator Zine el Abidine Ben Ali aus dem Amt jagten, „Dégage!“ – „Verdufte!“. Dieses Mal galt der Ruf den Islamisten. In mehreren Städten wurden Ennahda-Büros verwüstet oder gar in Brand gesteckt. In der Industriehochburg Sfax um Süden des Landes wurde, laut Berichten im Internet, der Zivilgouverneur von einer wütenden Menschenmenge aus seinem Büro getrieben. Die Oppositionsparteien rufen für Donnertag zu einem Generalstreik mit dem Ziel die islamistische Regierung durch eine Regierung der Nationalen Einheit zu ersetzen./Foto:Wikipedia