© 2013 Reiner Wandler

Ennahda-Regierung in der Krise

Tunesien kommt auch am Tag nach dem Mord an Oppositionspolitiker Chokri Belaid nicht zur Ruhe. Erneut gingen überall im Land die Menschen im Gedenken an den 48-jährige Generalsekretär der marxistische – panarabistischen Vereinigten Partei der Demokratischen Patrioten (PPDU) und wichtige Führer des Linksbündnisses Volksfront auf die Straße. Zuerst blieben die Protestmärsche friedlich. Doch gegen Mittag kam es in Tunis und anderen Städten zu schweren Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Polizei. Vielerorts wurden erneut Büros der islamistischen Regierungspartei Ennahda angegriffen. Vor dem Elternhaus Belaids im Süden der Hauptstadt Tunis bildete sich eine lange Schlange von Trauernden, die von dem beliebten Linkspolitiker Abschied nehmen wollten.

Die Proteste haben sich längst zu einer politischen Krise für die islamistische Regierungspartei Ennahda und ihre beide säkularen Koalitionspartner ausgewachsen. „In den Moscheen kommt es zu Aufrufen zu Gewalt und Mord durch zugelassene Parteien, die im Präsidentenpalast empfangen und von Ennahda unterstützt werden“, erklärte der politische Weggefährte von Belaid im Volksfront-Bündnis Hamma Hammami, warum vier Oppositionsparteien anlässlich der für Freitag Nachmittag vorgesehen Beerdigung zum Generalstreik rufen.
Die Opposition in Tunesien macht das Umfeld der Ennahda für den Mord am 48-jährigen Anwalt und Vorsitzenden der verantwortlich. Hinter den tödlichen Schüssen werden die Milizen der sogenannten Liga zum Schutz der Revolution vermutet. Diese der Regierungspartei nahestehenden Gruppierungen hatten in den vergangenen Monaten immer wieder Einrichtungen der Gewerkschaften und Opposition angegriffen.
Der Vorstand der größten Gewerkschaft des Landes, der UGTT, tagte den ganzen Donnerstag Morgen, um sich schließlich dem Streikaufruf anzuschließen. Zusammen mit der Opposition fordert die UGTT den Rücktritt der Regierung und eine neue Exekutive der „Nationalen Einheit“. Diese soll die Geschicke des Landes lenken, bis die Verfassung ausgearbeitet ist, und die Tunesier zum zweiten Mal nach der Revolution an die Urnen gehen, um ihre endgültigen Institutionen zu wählen.
Ministerpräsident Hamadi Jebali wollte den Druck schon im Vorfeld von seiner sogenannten Troika nehmen. „Ich habe beschlossen, eine Regierung der nationalen Kompetenz ohne politische Zugehörigkeit zu bilden“, sagte Jebali im Mittwoch Abend in einer Ansprache im Staatsfernsehen. Die Technokratenregierung solle ein „beschränktes Mandat zur Führung der Geschäfte des Landes bis zur Abhaltung von Wahlen binnen kürzester Frist“ haben. Eigentlich sind Parlaments- und Präsidentschaftswahlen für Ende Juni vorgesehen. Doch dürfte diese Frist kaum einzuhalten sein. Denn die im Oktpber 2011 gewählte Verfassunggebende Versammlung ist noch weit davon entfernt, das neue Grundgesetz vorzulegen.
Während die Opposition teilweise positiv auf den Vorschlag Jebalis reagierte, wurde er von seiner eigenen Partei kritisiert. „Der Ministerpräsident hat die Partei nicht nach ihrer Meinung gefragt“, beschwert sich der Vize-Präsident der islamistschen Formation, Abdelhamid Jelassi. „Wir von der Ennahda glauben, dass Tunesien jetzt eine politische Regierung braucht“. Die Partei werde ihre Gespräche mit anderen Parteien über ein Regierungsbildung aufnehmen. Ein Großteil der Opposition dürfte dies zurückweisen, zu tief ist der Graben zwischen weltlichem und religiösem Lager.
Einer der namhaftesten Rechtswissenschaftler Tunesien, der ehemalige Dekan der Rechtsfakultät an der Uni in Tunis, Sadok Belaid, bezweifelt gar, dass Jebali die Regierung einfach so umbauen kann. Nach der Geschäftsordnung der Verfassunggebenden Versammlung, der sogenannten Miniverfassung, könne er zwar einzelne Minister austauschen, aber nicht die ganze Regierung. „Um eine neue Regierung zu bilden, muss Jebali selbst auch zurücktreten. Er könnte damit endgültig seinen Posten verlieren.“ Viele derer, die gestern auf die Straße gingen, würden dem Islamisten sicher nicht nachtrauern.

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