© 2011 Reiner Wandler

"Zwischen Macht und Gegenmacht."

Mongi Amami (59) ist Vorsitzender des Abteilung für Studien und Dokumentation des Vorstandes der tunesischen Gewerkschaft Union Générale Tunisienne du Travail (UGTT). Er kommt aus der Chemieindustrie. Als linker Oppositioneller saß er in den 70er Jahren zwei Jahre im Gefängnis. Amami stammt aus Sidi Bouzid, von wo Mitte Dezember die Proteste ausgingen, die am 14. Januar zum Sturz von Präsident Zine El Abidine Ben Ali führten. Vergangenen Sommer verfasste er eine ausführliche Studie über die explosive soziale Lage im ärmsten Teil des nordafrikanischen Landes.


Die UGTT war maßgeblich an den Protesten beteiligt, die zum Sturz von Präsidenten Ben Ali führten, nachdem er 23 Jahre an der Macht war. Wie kam es dazu?

Die Proteste begannen in Zentraltunesien, der ärmsten Region des Landes. Die Lebensbedingungen dort waren einfach unerträglich. Die Arbeitslosigkeit ist die höchste im Land, die Analphabetenquote übertrifft alle anderen Regionen, die Arbeitsbedingungen in der Landwirtschaft sind sehr schlecht. Die Gewerkschafter vor Ort waren sich dessen bewusst. Als die Proteste begannen, waren sie mit dabei. Als sich die Revolte langsam aber sicher ausweiteten, nahmen auch in anderen Städten und Regionen die örtlichen Gewerkschafter teil. Die Gremien solidarisierten sich nach und nach mit der Bewegung.

Eine ungewöhnliche Entwicklung, denn die UGTT stand nicht immer in der Opposition. Sie wurde oft von der Regierungspartei RCD dominiert.

Die UGTT war immer hin- und hergerissen zwischen Macht und Gegenmacht. Die Gewerkschaft entstand 1946, zehn Jahre vor der Unabhängigkeit Tunesiens von Frankreich. Die Gewerkschaft spielte eine sehr wichtige Rolle im Kampf für die Unabhängigkeit. Wir sind also eine echte, eigenständige Bewegung. Dennoch war die UGTT intern immer von zwei Tendenzen geprägt. Von denen, die sich in der Opposition zum Regime sahen, und diejenigen, die Regierung und Staat unterstützten. Aber rückblickend können wir sagen, dass die UGTT sich in wichtigen Momenten unserer Geschichte, immer für die Opposition, für den Wandel, entschieden hat. Wir haben Generalstreiks durchgeführt, waren bei den Aufständen gegen die Brotpreiserhöhungen in den 80er Jahren mit dabei, usw. Die UGTT war all die Jahre über ein Auffangbecken für Oppositionelle. Sie war der einzige Ort, wo sich diese betätigen konnten.

Auch nach dem Sturz Ben Alis unterstützte die UGTT die Proteste für eine „saubere Übergangsregierung“. Nun hat Ministerpräsident Mohammed Ghannouchi alle belasteten Minister entlassen. Nur er bleibt noch aus den alten Tagen übrig. Können Sie damit leben?

Die Regierung besteht aus unabhängigen Ministern und aus Technokraten, die sehr viel Prestige auf ihren Fachgebieten haben. Ich glaube, dass dies eine gute Übergangsregierung ist. Die Regierung hat eine wichtige Aufgabe. Sie muss Kommissionen einrichten, um die politischen Reformen vorzubereiten, die das Land in die Demokratie führen. Außerdem muss die Korruption und die Polizeigewalt gegen die Proteste, die zum Sturz von Präsident Ben Ali geführt haben, untersucht werden. Wir unterstützen die Regierung bei dieser Arbeit. Allerdings stellen wir als Bedingung, dass in den entsprechenden Kommissionen Gewerkschaft, Opposition und Vertreter der Zivilgesellschaft sitzen.

Nach dem Sturz von Ben Ali wurden namhaften Mitgliedern der UGTT drei Ministerposten angeboten. Warum hat die Gewerkschaft diese nicht angenommen?

Unsere Gewerkschaft ist aus vielen unterschiedlichen Strömungen zusammengesetzt. Das hat dazu geführt, dass die Gremien in der Gewerkschaft beschlossen haben, unsere Unabhängigkeit zu wahren. Wir wollen als Kontrollinstanz funktionieren und nicht direkt mitregieren. Allerdings werden wir in den Kommissionen unsere politische, wirtschaftlichen und sozialen Forderung einbringen. Außerdem werden wir eine Plattform ins Leben rufen, die den Übergangsprozess kritisch begleiten wird. Dazu laden wir Vertreter der Oppositionsparteien und der Zivilgesellschaft ein.Was sind die wichtigsten Aufgaben, vor denen Tunesien jetzt steht?

Die Wirtschaft muss wieder angekurbelt werden. Das heißt, es ist wichtig, dass die Menschen wieder zur Arbeit gehen, dass Normalität einkehrt. Und dann müssen wir die Verfassung dahingehend ändern, dass wir wirklich freie Wahlen haben und sich das Land vollständig demokratisch öffnet. Die alte Regierungspartei RCD muss völlig aufgelöst werden. Und alles was sich ihre Mitglieder unrechtmäßig angeeignet haben, muss der öffentlichen Hand zugeführt werden. Das gleiche gilt für die Unternehmen des Clans rund um das Präsidentenpaar Ben Ali und seine Frau Leila Trabelsi.

Werden die Proteste weitergehen?

Es gibt sicher Leute, die weiterhin auf die Straße gehen werden. Wir werden versuchen in engem Kontakt mit diesen Menschen zu bleiben und ihre Forderungen zu hören und sie in unsere Arbeit aufzunehmen.

Die UGTT will sich also irgendwo zwischen der Straße und der Verantwortung für den Übergang ansiedeln?

Das trifft es sehr gut.

Zuerst erschienen: Verdi – Publik.

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