© 2011 Reiner Wandler

Reservisten zum Schutz der Revolution

 

Tunesien stärkt seine Übergangsinstitutionen. Parlament und Senat, die mit großer Mehrheit aus Abgeordneten der per Regierungsbeschluss aufgelösten, ehemaligen Staatspartei RCD bestehen, haben Übergangspräsidenten Foued Mebazaa mit weitreichenden Befugnissen ausgestattet und sich damit selbst entmachtet. Mebazaa, der am 15. Januar, einen Tag nach dem Sturz von Diktator Zine El Abidine Ben Ali die Staatsführung übernahm, kann künftig so wichtige Themen wie Generalamnestie oder Antiterrorgesetzgebung per Dekret entscheiden. Außerdem kann er internationale Abkommen, wie den Betritt zu Menschenrechtskonventionen, ohne Parlament ratifizieren.

Mebazaa versprach am Mittwoch in seiner ersten Fernsehansprache, seit er das Übergangsamt übernahm, diese neue Machtbefugnisse zu nutzen, „um so schnell wie möglich und auf die beste Art und Weise“ den Übergang zur Demokratie zu bewerkstelligen. Er werde die Parteien und die Zivilgesellschaft in alle Entscheidungen einbinden. Außerdem versprach er angesichts einer Welle von Streiks in allen wichtigen Sektoren der tunesischen Wirtschaft „Sozialverhandlungen auf nationaler Ebene“, um die „soziale Situation aller Menschen im Volk in allen Bereichen zu regeln“. „Eure Forderungen sind legitim, aber ihr müsst die schwierige Situation verstehen, in der sich das Land befindet“, richtete sich Mebazaa an die Bevölkerung.

Tunesien steht vor einem Berg von Problemen. Die Wirtschaft liegt am Boden, die Touristen bleiben aus. In mehreren Städten kam es auch in den vergangenen Tagen wieder zu gewaltsamen Auseinandersetzungen von Demonstranten mit der Polizei. Die Demonstranten verlangen die Absetzung von Gouverneuren und Polizeichefs, die als RCD-belastet gelten.

Die Übergangsregierung unter Mohammed Ghannouchi scheint diesem jetzt nachzukommen. Eine Regierungsdelegation handelte mit der Führung der Gewerkschaft UGTT, die maßgeblich an den Protesten, die zum Sturz von Ben Ali führte, beteiligt war, die Absetzung belasteter Führungskräfte aus. Darunter fallen auch eine Zahl von Gouverneuren, die erst vor kurzem eingesetzt worden waren. Außerdem wurde in den Gesprächen der Grundstein für den von Präsident Mebazaa angekündigten Sozialdialog gelegt. Die UGTT wird außerdem einen Rat ins Leben rufen, in dem Oppositionsparteien und Vertreter der Zivilgesellschaft sitzen, um den Demokratierungsprozess kritisch zu begleiten.

Das Innenministerium untersucht die Reaktion der Polizei auf verschiedene Demonstrationen am Wochenende, bei denen mindestens fünf Demonstranten ums Leben kamen. Außerdem hat die Übergangsregierung zwei Beschlüsse gefasst, um die Sicherheitslage im Land zu verbessern. Zum einen werden die Polizisten aufgefordert, sich umgehend zum Dienst zurück zu melden. Die Polizei ist völlig unterbesetzt, da unzählige Beamten seit dem Sturz Ben Alis nicht mehr am Arbeitsplatz erscheinen. Wer sich nicht sofortd zurückmeldet, müsse mit Entlassung rechnen, droht Innenminister Fahrat Rajhi.

Gleichzeitig ruft das Verteidigungsministerium die Reservisten der Armee auf, sich ab kommenden Mittwoch bei den Rekrutierungszentren ihres Wohnbezirkes einzufinden. Die Armee, die mit ihren 35.000 Mann seit dem Sturz Ben Alis die Polizei im Straßenbild abgelöst hat, soll dadurch in die Lage versetzt werden, mit mehr Personal für Sicherheit und Ordnung zu sorgen. Die Soldaten sind bei der Bevölkerung – anders als die Polizisten – äußerst beliebt. Die Regierung beriet am gestrigen Donnerstag über die Aufhebung der Ausgangssperre. In den Tagen nach dem Sturz Ben Alis dauerte diese von 17 bis 5 Uhr. Mittlerweile gilt sie nur noch von Mitternacht bis vier Uhr in der früh.

Was bisher geschah: