Ganz anders die offiziellen Angaben: 53.000 Besucher soll demnach die Manifesta im ersten von drei Monaten verzeichnet haben. Damit seien 70 Prozent der fünf Millionen Euro, die das Wanderkunstprojekt die Region Murcia gekostet hat, bereits wieder als Einnahmen in die Region zurückgeflossen. Die Kunst als Heilmittel der Krise sozusagen.
Doch wer auf der Straße nach den Ausstellungsorten – meist schon lange leerstehende Gebäude – fragt, erntet unverständliche Blicke. „Das alte Postamt von Murcia? Das ist doch seit Jahren außer Betrieb, was wollen Sie da.“ – „Das Gefängnis von Cartagena? Das ist zu. Die Gefangenen sind in andere Haftanstalten verlegt worden.“ Ob die Hausfrau, der Bauarbeiter oder die pensionierte Studienrätin, die Antworten fallen immer gleich aus.
„Vermutlich ist das, was da gezeigt wird, einfach zu schwer zu verstehen“, erklärt sich Angel Amor das fehlende Interesse der Einheimischen. „Zu viel Video und zu wenig Skulpturen und Malerei“, beschreibt er, was auch Kunstkritiker bemängeln. Der junge Mann arbeitet als Freiwilliger auf der Manifesta und ist als solcher ein Aushängeschild für die Ausstellung, die sich selbst als sozio-politisches Projekt begreift. Amor steht für den postulierten Dialog mit der Gesellschaft.
Denn Amor saß, bevor er im Sommer nach Murcia verlegt wurde, in genau jenem Gefängnis von Cartagena ein, dass jetzt einem der interessantesten Ausstellungsteile Platz bietet. In den leeren Zellen des Gefängnises San Antón laufen – wie könnte es anders sein – Videos. Im Gegensatz zu den Installationen im städtischen Museum Arqua, oder im alten Postamt und der alten Artelleriekaserne in Murcia, haben die Kurzfilme klare, gut verständliche Aussagen.
Der französisch- dänische Künstler Thierry Geoffroy nimmt sich des alltäglichen Dialogs der einheimischen Bevölkerung mit den Einwandern aus Nordafrika an. Er führt Interviews auf den Straßen von Cartagena. Schnell überlässt er den Befragten das Mikrofon und erreicht so, dass sich Nachbarn von beiden Seiten des Mittelmeeres gegenseitig befragen und kennenlernen. Ein Interessantes Dokument, das Vorurteile und Halbwissen zu Tage fördert. Es ist einer der wenigen Orte, wo der von Manifesta angestrebte Dialog mit Nordafrika spürbar ist.
Für Amor, der zum Jahresende endgültig auf freiem Fuss kommen wird, gibt es ein Vor und Nach der Manifesta. Der Kontakt mit den Kunstwelt hat Lust auf mehr gemacht. Seit Mitte Oktober studiert er an der Kunsthochschule in Murcia. „Die Kunst hat mein Leben grundlegend verändert, endlich weiß ich wohin ich will“, erklärt Amor, der mit 14 Jahren erstmals an einem Überfall beteiligt war. Er will sich ganz der Bildhauerei widmen.
Die Manifesta findet er aufregend und neu, aber dennoch hat er seine Zweifel. „All das ist bald vorüber- und dann?“ fragt er. „Die meisten Gebäude stehen wieder leer. Das Postamt wird zu einem Casino umgebaut, dabei wären in der Region so viele andere Dinge nötig“, glaubt Amor. Er denkt dabei an Räume für lokale Kunstprojekte, Theater, Musiker und Galerien … kurz Freiräume aller Art. „Doch wir leben in einem Land des schnellen Geldes“, weiß er und denkt dabei nicht an Bankräuber, sondern an die Spekulation auf dem Immobilienmarkt, die in der Region um Murcia in den letzten Jahren blühte und die Mentalität entschieden beinflusst hat.
Wenn jemand eines der Gebäude dringend brauchen könnte, ist dies Juan de Díos, Programmdirektor der Kunst und Design-Hochschule in Murcia, in der Amor seine ersten künstlerisch-akademischen Schritte macht. Die Schule platzt aus allen Nähten und die Mittel sind spärlich. „Dabei bräuchten wir nur 200.000 Euro pro Jahr mehr, um gut zu arbeiten“, erklärt De Díos angesichts der 5 Millionen Euro für die Manifesta.
Der Produktdesigner betrachtet die Biennale „mit gemischten Gefühlen“. Zum einen biete die Manifesta regionalen Künstler eine Gelegenheit, „wenn auch nur auf kleinen Parallelveranstaltungen“, zum anderen passe „sie nicht zum aktuellen Kontext der Krise“. Die Spekulationsblase ist geplatzt. Murcia liegt mit knapp 24 Prozent Arbeitslosigkeit vier Punkte über dem Landesschnitt, überall wird gespart. Auf das künstlerische Konzept angesprochen, schüttelt De Díos nur den Kopf: „Vielleicht kapiere ich das sozio-politische Konzept einfach nicht, aber in meinen Augen ist die Biennale Kunst für Kunstprofis.“
Santi Eraso hat darauf eine Antwort. Der ehemalige Direktor des baskischen Kunstmuseum Arteleku erinnert sich noch gut an die Manifesta 5, 2004 in San Sebastián: „Die europäische Biennale kam und ging, und kaum jemand weiß, wie sie war. Sie endete, wie sie begonnen hatte, mit einem Fest für VIPs mit Cocktails und vielen kostenlosen Akkreditierungen für Profis aus der Kunstbranche. In den vier Monaten, die sie dauerte, ist kaum mehr passiert.“/ Fotos: GoldmannPR