© 2011 Reiner Wandler

Und der Kaiser ist doch nackt

 

Es sollte eine perfekte Inszenierung werden, mir der Tunesiens Präsident Zine El Abidine Ben Ali sein Gesicht wahren wollte. Er trat am Donnerstag Abend vor dem Fernsehkameras und versprach Reformen und Versammlungsfreiheit. Außerdem gab er an, seine Amtszeit 2014 beenden zu wollen.

Nur die Ungeduld des Volkes scheint ihm einen Strich durch die Rechnung zu machen. Am Freitag rief die Gewerkschaft UGTT in der Hauptstadt Tunis auf die Straßen, und stellte die versprochene neue politische Kultur auf die Probe. Was als zweistündiger Generalstreik geplant war, wurde zu einer Kundgebung von über Zehntausend Menschen, die sich den ganzen Tag friedlich vor dem Innenministerium auf der Avenue Habib Bourguiba versammelten. Gegen 14:30 löste die Polizei die Versammlung dann mit Tränengas einsetzen auf.

Zivilbeamten macht Jagd auf Demonstranten und benutzen dabei Knüppel und Steine. Überall in der Innenstadt kam es zu teils heftigen Auseinandersetzungen. Bei Redaktionsschluss war die Lage völlig unübersichtlich.

Die Demonstranten sangen immer wieder die Nationalhymne und riefen „Freiheit für Tunesien. Ben Ali raus!“ Ohne Rücktritt des Staatschefs, der das Land seit 23 Jahren mit eiserner Hand regiert wollen sie keine Ruhe geben. „Wir vergessen unsere Märtyrer nicht“, gedachten sie der über 100 Toten durch den Schusswaffengebrauch von Polizei und Armee in der letzten Woche.

Zu Beginn herrschte eine gelöste, fast schon fröhliche Stimmung. Immer wieder kamen Gruppen neuer Demonstranten. Ganze Familien tauchten auf. Alle verewigten sie mit ihren Handys den Moment „der zweiten Unabhängigkeit“, wie sie es nennen. Auf den Dächern der umliegenden Wohnblocks schwenkten Jugendliche die rote, tunesische Fahne mit Halbmond.

Wo ein ausländischer Journalist auftauchte, versammelten sich spontan Dutzende. „Danke dass ihr uns nicht alleine gelassen habt!“ lautet einer der häufigsten Sätze. „Schreiben Sie, wir Tunesier werden nie wieder gebückt gehen“, ein anderer.

Noch am Donnerstag Abend hatte Ben Ali mit einer Fernsehansprache versucht, das Ruder herumzureißen. Nach einem Tag an dem rund um und in der Hauptstadt mindestens fünf Tote durch Polizeieinsätze zu beklagen waren, trat Ben Ali kurz vor Beginn der Ausgangsperre um 20 Uhr vor die Fernsehkameras. „Ich habe Euch verstanden“, sagte der Staatschef und versprach Presse- und Versammlungsfreiheit, sowie eine unabhängige Kommission, die das Land zur Demokratie führen solle. Die Preise für Grundnahrungsmittel würden gesenkt, er habe der Polizei befohlen, nicht mehr zu schießen. Die Rede war kaum um, mobilisierte das Regime mehrere Hundert Anhänger. Laut hupend feierten sie trotz Ausgangsperre mit einem Corso meist teurer Geländewagen den Staatschef auf der Avenue Habib Bouguiba, an denen die Hotels liegen, in der die internationale Presse abgestiegen ist. Fussvolk wurde aus verschiedenen Stadtteilen mit Bussen unter Polizeieskorde herangeschafft.Kurz vor Mitternacht gingen dann plötzlich die gesperrten web-sites der Opposition wieder. Die Videos auf youtube über die Unruhen die Tunesien seit Mitte Dezember erschüttern, waren plötzlich zugänglich und selbst der Anfang Januar verhaftete Blogger Slim Amamou tauchte im Twitter auf. „Ich bin frei“, lautete seine kurze Nachricht.

„Ben Ali hatte seine letzte Patrone verschossen“, analysierte der französische Nachrichtensender France 24 noch in der Nacht. Es war vergebens, zeigte sich bereits wenige Stunden später. Tausende versammelten sich vor dem Gewerkschaftshaus in Tunis. Die Polizei stellte sich den Demonstranten in den Weg. Diese brachen auf die Avenue Habib Bouguiba durch und zogen zum Innenministerium. Den ganzen Tag über wuchs die Menge an.Der Aufmarsch war die Gelegenheit endlich das zu tun, was so lange Jahre nicht möglich war. Studenten, Arbeitslose, Arbeiter, Büroangestellte, Hausfrauen, Ärzte, Lehrer, stehen zusammen und debattieren. Alle geben frei ihre Vision vom Geschehen preis. So mancher fühlte sich gar als spontaner Redner berufen, und erntete für seinen Mut Applaus. Die Zivilpolizisten zogen sich hilflos zurück.

„Glauben Sie wirklich, dass wir uns mit ein paar Centimes weniger für Brot und Eier zufrieden geben“, bricht es aus Hedi heraus, der seinen Nachnamen lieber nicht gedruckt sehen will. „Wir wollen alles zurück, was uns geklaut wurde“, sagt der 52-Jährige. Die Umstehende geben ihm Recht. Alle reden von der Korruption und vom Clan Ben Ali und von „den Trabelsis“, der Familie der Präsidentengattin Leila Ben Ali. Sie haben sich im Laufe der Privatisierung der einstigen Staatswirtschaft an sich gerissen, was nur irgendwie lukrativ erscheint. Banken, Handelsketten, der Import aller großen europäischen und asiatischen KFZ-Marken von Volkswagen über Peugeot bis hin zu Jaguar und MAN. Selbst die Fluggesellschaft Tunis Air und verschiedene Charterkompanien sind in Familienbesitz übergegangen.

„Nur mit einer erneuten Verstaatlichung können wir den Reichtum dem Volk zurückgeben“, bietet Hedi eine Lösung an. Bevor er weiter zieht, berichtet er noch, warum dies für ihn ein ganz besonderer Tag ist. „Dort drüben saß ich von 1992 bis 1994 ohne Gerichtsurteil ein“, sagt er und deutet dabei auf das belagerte Innenministerium. Das Vergehen des ehemaligen Journalisten war „ein leicht kritischer Meinungsartikel“. Seither bekommt Hedi keine Arbeit mehr. Ohne seine Frau, die auf einer Botschaft arbeitet, wüsste er nicht was er tun soll.„Wir wollen keine Scheinkommission, wir wollen Demokratie und freie Wahlen und das ohne Ben Ali“, erklärt ein Student. Auf die Frage, wer denn das Land in die neue Zeit führen solle, meint er nur: „Wir haben genügend gut gebildete Leute, die sich in einem politischen Prozess profilieren können.“

Doch zur Zeit gibt in Tunesien keine herausragenden Oppositionsführer. Ben Ali hat mit seiner Repression in den 23 Jahren an der Macht ganze Arbeit geleistet. Einer der wenigen, die einen gewisse Beliebtheit genießen ist Nejib Chebbi, der Vorsitzende der verbotenen Fortschrittlich Demokratischen Partei. Er könne sich vorstellen an einer Übergangsregierung der nationalen Einheit teilzunehmen, erklärte er, kurz nach Ende der Präsidentenansprache gegenüber dem französischen Nachrichtensender France24. „Die Rede ist politisch wichtig und kommt den Erwartungen der Bevölkerung und der Opposition entgegen“, fügte er hinzu. Als Beispiel für eine langsamen Übergang zu einem echten Mehrparteiensystem nannte er Marokko, wo die Monarchie Ende der 90er einen Demokratisierungsprozess eingeleitet hatte.Bei den Protestierenden vor dem Innenministerium will davon allerdings keiner was hören. „Die Revolution geht weiter. Ben Ali raus!“ skandierten Studenten, als sie unter Tränengasbeschuss die Flucht antraten.

Was bisher geschah: