© 2011 Reiner Wandler

Der alte Mann und das Regime

 

Ali Ben Salem ist sichtlich gerührt. Er schaut die Straße hinunter, die ins Stadtzentrum führt. „RCD raus!“ skandiert die Menge, die langsam näher kommt. Es sind Menschen aller Altersgruppen, die eines eint: Der Wunsch nach der vollständigen Eliminierung des alte, verhasste Systems der Regierungspartei RCD des gestürzten tunesischen Präsidenten Zine El Abidine Ben Ali. Seit Tagen geht das jetzt so. Und die wichtigste Station der friedlichen Märsche ist immer das Haus von Ben Salem. „Am Ali“ – „Onkel Ali“ – nennen ihn hier in Bizerte, 70 Kilometer nord-westlich von Tunis, alle liebevoll – selbst seine Frau Zeineb.

Ben Salem tritt auf den Balkon im ersten Stock seines Hauses. Irgendjemand bringt eine tunesische Fahne. Unten rufen die Leute Parolen, lassen ihren „Am Ali“ hochleben und singen die tunesische Hymne. Er grüßt ohne Unterlass, versucht sich an einer Ansprache, aber die Stimme versagt. Tränen schießen dem Alten in die Augen.

Der kleine und immer noch quirlige Alte ist das Symbol ihrer Revolution. Mehr als die rote, tunesische Fahne mit Halbmond und Stern, die sich mit sich führen und mehr als die Nationalhymne, die sie immer wieder anstimmen. Der 78-Jährige machte ihnen die ganzen Zeit über Mut. Er steht für den ungebrochen Widerstand in den 23 dunklen Jahren der Diktatur Ben Alis. Ben Salem gehört der, bis vor wenigen Tagen verbotenen, Tunesischen Liga für Menschenrechte (LTDH) an. Er sammelte unermüdlich Informationen über Menschenrechtsverletzungen und reichte die immer länger werdende Listen an internationale Menschenrechtsorganisationen und die UNO weiter. Dafür lieben sie ihn in der 230.000 Einwohner zählenden Hafenstadt.

„Ich hätte nicht gedacht, dass ich das noch erleben darf“, beginnt Ben Salem beim Kaffee. Er war sich sicher, dass Diktator Ben Ali ihn überleben würde. Kleinlaut gesteht er ein, dass er Mitte Dezember. als nach der Selbstverbrennung eines jungen Arbeitslosen in Zentraltunesien, die Jugendproteste begannen, nicht an Veränderung glaubte. „Ben Ali hat immer hart durchgegriffen. Ich war mir sicher, dass er auch dieses Mal Herr der Lage würde“, erklärt der gelernte Topograph, der dank seines Engagements für die Menschenrechte nur selten Arbeit fand.

Erst als die spontanen Jugendproteste Anfang Januar zum Flächenbrand entwickelten und auch Bizerte erreichte, wurde Ben Salem klar, dass es dieses Mal anders war. Er begann zu hoffen. Und dann kam der Freitag, der 14.Januar 2011. Ben Ali dankte ab und floh nach Saudi Arabien. So richtig zum Feiern ist es Ben Salem dennoch nicht zu mute. „Wir sind noch langer nicht fertig. Das ganze alte korrupte System muss weg“, sagt er und stellt sich damit hinter die Proteste gegen Minister, die aus der RCD stammen, in der Übergangsregierung.

„Ich stand bei den Demonstrationen nur am Straßenrand und schaute zu. Ich bin alt und müde“, entschuldigt er sich. Nach einer kurzen Unterbrechung berichtet er dann von Folter und Haft, die seiner Gesundheit zugesetzt haben. Nur sechs Jahre nach der Unabhängigkeit am 20. März 1956 wurde er unter dem ersten Präsidenten Habib Bourguiba zu 20 Jahren Haft verurteilt. Ben Salem hatte sich unter dem Decknamen Ali Kchouk an einem Umsturzversuch derer beteiligt, die anders als der Präsident, ganz mit Frankreich brechen wollten.

„11 Jahre sass ich davon ab. Sechs einhalb Jahre war ich angekettet“, berichtet er. „Ob es der linke oder der rechte Fuß war, der in Ketten lag … ich weiß es nicht mehr.“ Jahreszahlen und kleine Details tanzen in seiner Erinnerungen. Immer wieder klopft er sich mit der flachen Hand auf den Kopf, als würde dies die Gedanken lösen. „Immer dieser Alzheimer“, lacht er dabei.

Er öffnet ein Bild auf seinem Computer. Es zeigt ein Titelblatt vom Tage des Urteils gegen die Verschwörer. Einer der Anführer war Oberst Moncef El Materi, heute enger Vertrauter von Ben Ali und einer der reichsten Männer des Tunesiens. Ben Salem selbst lebt mit seiner Frau Zeineb von einer kleinen Rente, die ihm als Veterane des Kampfes gegen die französische Kolonialherrschaft in den 50er Jahren zusteht. „Bizarr“, meint der Alte nur, und schüttelt dabei den Kopf.

„Ben Ali war nicht immer verhasst“, fährt Ben Salem dann fort. Als der einstige Sicherheitschef 1987 durch einen unblutigen Putsch an die Macht kam, hatte er, wie viele andere Tunesier auch, Hoffnung auf eine Öffnung. „Doch schon 1989 war alles vorbei. Ben Ali beschwor die islamistische Gefahr und bekam dadurch die Unterstützung des Westens.“ Tausende Linke und Islamisten wurden verhaftet. Eine falsche Meinung, auffällig häufige Moscheebesuche, der Vorwurf nach Afghanistan gehen zu wollen … „alles reichte, um wegen versuchtem Aufstand oder Terrorismus zu bis zu 20 Jahren verurteilt zu werden“, erzählt Ben Salem. Nur den wenigsten sei ein tatsächliches Delikt vorgeworfen worden.

Sein Engagement für die Gefangenen und Misshandelten ließ auch Ben Salem zum Ziel der Staatssicherheit werden. Der Menschenrechtsaktivist wurde überwacht und im Jahre 2000 verhaftet und schwer gefoltert. „Drei Rückenwirbel haben Sie mir gebrochen“, berichtet der Alte und zeigt auf sein Bett, ein Holzbrett mit dünner Decke. Nur so hält er die Schmerzen aus, die er bis heute hat.

Die Polizisten im Innenministerium dachten ihr Opfer wäre tot und schmissen ihn in eine Baugrube. „Arbeiter fanden mich und brachten mich ins Krankenhaus von Tunis.“ Als auch dort wieder die Polizei auftauchte, floh er durchs Fenster. Freunde brachten ihn im Auto nach Bizerte.

Als er seinen Fall schließlich vor der UN-Menschenrechtskommission brachte, spitzte sich die Lage zu. Ihm wurde der Krankenkassenausweis abgenommen und dass trotz seines Rücken- und einem schweren Herzleiden. Er durfte fortan Bizerte nicht verlassen. Defacto lebte Ben Salem mit seiner Frau bis zu Ben Alis Sturz unter Hausarrest. Wer sich seiner Tür näherte, wurde sofort abgeführt. „Ich konnte zwar raus, aber wer sich mir näherte, bekam es ebenfalls mit der Polizei zu tun“, berichtet Ben Salem. Zwei seiner drei Kinder leben seit vielen Jahren in Frankreich. Bis heute hat Ben Salem sie nicht besucht. Er hat keinen Pass.

„Ich war in den ganzen Jahren ständiger Kunde bei der Polizei“, sagt er. Als sie ihn nach seiner Klage bei der UN zum Verhör abholten, schlugen die Polizisten auch seine Frau mit der Faust solange ins Gesicht, bis sie überall blutete.

Polizei gibt es in Bizerte seit Tagen nicht mehr. Der Verkehr rollt geordnet, ohne dass ein Beamter auf der Kreuzung steht. Die Spitzel sind aus dem Straßenbild verschwunden. Ein paar Soldaten bewachen staatliche Gebäude. Die Scharfschützen, die unmittelbar nach dem Sturz von Ben Ali die Vororte unsicher machten, hat die Armee längst vertrieben. Die Geschäfte, die aus Angst vor Plünderungen geschlossen und mit Metallplatten verbarrikadiert wurden, öffnen wieder. Nur der Supermarkt Monoprix im Stadtzentrum wurde Opfer der Flammen. Die Handelskette gehört zum Imperium des Clans rund um Ben Ali. Die Staatspartei RCD ist ebenfalls aus dem Straßenbild verschwunden. Im Innenstadtbüro wurde das Schild zerdeppert. Jemand hat „Volkshaus“ an die Wand gesprüht.

„Beim Provinzbüro der Partei haben wir das Schild ausgewechselt“, berichtet Ben Salem stolz von einer Aktion vom vergangenen Dienstag. Jetzt hängt ein Transparent am Gebäude. „Mohammed Bouazizi – Haus“ steht darauf zu lesen, im Gedenken an den jungen Arbeitslosen, der mit seiner Selbstverbrennung in Sidi Bouzid die Revolution ins Rollen gebracht hat.

Bei den Ben Salems läuft das Staatsfernsehen. Das ist neu. „Keiner hat diesen Sender früher gesehen. Wir haben uns alle per Satelittenfernsehen und im Internet informiert“, sagt er. Jetzt sind plötzlich politische Debatten mit Oppositionellen zu sehen, Nachrichten, die den Namen verdienen, Programme bei denen Tunesier von überall im Lande anrufen, ihre Sorgen und Nöte und vor allem ihre Meinung zu dem beisteuern, was die Nach-Ben-Ali-Ära bringen soll.

Auch Ben Salem macht sich seine Gedanken. „Die RCD-Minister müssen alle weg, vor allem der Innen- und Finanzminister“, sagt er. Sie hätten sich mitschuldig an den Verbrechen Ben Alis gemacht. „Und wir müssen wachsam sein, damit die Armee die Macht nicht übernimmt“, fügt er nach einer kurzen Pause hinzu, und spricht damit eine Gefahr an, derer sich dieser Tage in Tunesien nur wenige bewusst sind. Da die Soldaten die Scharfschützen der Präsidentengarde und Milizen überall im Lande zurückgedrängt haben, genießen sie ein hohes Ansehen. Doch Ben Salem traut ihnen nicht. Schließlich kam auch Ben Ali einst aus ihren Reihen. „Eine Militärdiktatur wäre noch schlimmer, als alles was wir durchlebt haben.“

Seine andere Sorge gilt den Islamisten. Er ist sich sicher, dass sie wieder auf der politischen Bühne mitspielen werden. „Ich kenne sie gut, schließlich habe ich sie verteidigt“, sagt er und meint dann: „Wir müssen darauf achten, dass das neue Tunesien Staat und Religion strickt trennt.“Zum Abschied zeigt „Am Ali“ stolz das Schild der Menschenrechtsliga, das alle die Jahre seine Gartenmauer schmückte. Es wurde von der Polizei irgendwann mit blauer Farbe überstrichen. Es regnet nicht oft in Bizerte und dennoch wurde die Farbe über die Jahre Tropfen für Tropfen abgewaschen. Der Schriftzug kam langsam, ganz langsam wieder zum Vorschein. Jetzt ist die Zeit gekommen für ein neues Schild. Ben Salem hat es bereits in Auftrag gegeben.

Was bisher geschah: