Salafisten im Zentrum von Tunis, anläßlich des zweiten Jahrestags der Revolution
Es waren Szenen, wie sie Tunesien nicht einmal während der Revolution gegen Diktator Zine El Abidine Ben Ali gesehen hat. Am Sonntag brannten in einen Vorort von Tunis und in der heiligen Stadt Kairouan die Barrikaden. Hunderte von meist jungen Anhängern der salafistischen Gruppe Ansar al Scharia (Anhänger des islamischen Gesetzes) griffen Polizisten und Soldaten mit Steinen, Knüppeln und Brandsätzen an. Auch aus Ben Gardane, einer Stadt an der Grenze zu Libyen wurden Zwischenfälle vermeldet.
Ansar al Scharia hatte zu ihrem Jahrestreffen nach Kairouan geladen. Am Freitag verbot die Regierung der islamistischen Ennahda den Kongress. 11.000 Polizisten und Soldaten waren in Kairouan im Einsatz, um den Beschluss aus dem Innenministerium umzusetzen. Ansar al Scharia reagierte mit einer Mobilisierung nach Intilaka/ Ettadhamen – einem der armen Vororte der Hauptstadt. Auch dort zog die Polizei auf. Mindestens ein Demonstrant kam im Laufe der Auseinandersetzungen ums Leben. Der 27-Jährige sei einem Schuss der Polizei zum Opfer gefallen, heißt es aus dem behandelten Krankenhaus in Tunis. Wie viele Salafisten verletzt wurden, ist nicht klar. Auf Polizeiseite soll es – so das Innenministerium 11, zum Teil schwer verletze Beamte geben. Einer von ihnen liege im Koma. Über 200 radikale Islamisten wurden verhaftet, unter ihnen soll sich der Sprecher der Ansar al Scharia, Seifeddine Rais, befinden.
Ansar al Scharia ist die größte salafistische Gruppe in Tunesien. Sie entstand nach dem Sturz von Diktator Ben Ali im Januar 2011. Nach eigenen Angaben zählt die Organisation 40.000 Mitglieder. Ihre Hochburgen befinden sich in den armen Vororten der großen Städte. Doch auch auf dem Land rekrutieren die Salafisten fleissig, indem sie an Menschen, die unter der wirtschaftlichen Krise leiden, Lebensmittel und andere Güter des alltäglichen Bedarfs verteilen.
Ansar al Scharia macht immer wieder durch gewalttätige Übergriffe auf Veranstaltungen säkularer Parteien, Konzerte und Kunstausstellungen von sich reden. Ihr Anführer, Saif Allah Bin Hussein – genannt Abou Iyadh – befindet sich seit einem Überfall auf die US-Botschaft in Tunis im September vergangenen Jahres auf der Flucht. Der ehemalige Afghanistankämfer droht der Regierung immer wieder aus dem Untergrund. „An die Tyrannen, die glauben Islamisten zu sein“ richtete sich Abou Iyadh anlässlich des Kongressverbots an die regierende Ennahda. „Eure dummen Taten werden Euch in den Krieg reißen.“
„Ansar al Scharia ist eine illegale Organisation, die die Autorität des Staates provoziert“, rechtfertigt Regierungschef Ali Laarayedh Verbot und Polizeieinsatz. Mehrere tunesische Nachrichtenseiten im Netz wurden gestern nicht müde, Laarayedh daran zu erinnern, dass er es war, der die Salafisten mit seiner Politik ermutigte. Vor seiner Ernennung zum Premier war der gemäßigte Islamist Innenminister. Ansar al Scharia konnte zu dieser Zeit auf die Untätigkeit der Regierung setzen. Verhaftete wurden schnell wieder auf freien Fuß gesetzt. Ennahda Präsident Rachid Ghanouchi traf sich mit der Führungsriege der Salafisten, und versicherte ihnen, ebenfalls für das Ziel der Islamisierung Tunesiens einzutreten.
Ein zaghafter Richtungswechsel setzte erst ein, als der bekannte Oppositionspolitiker Mohamed Chokri Belaid im Februar erschossen wurde, und kurz darauf eine Terrorzelle in den Bergen an der Grenze zu Algerien den Kampf aufnahm. Anfang Mai wurde unweit von Tunis ein Polizeibeamter enthauptet. Ansar al Scharia stehe zu den Terroristen, die Al Qaida im islamischen Maghreb (AQMI) angehören sollen, in Kontakt, so Premier Laarayedh.
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Tunesiens islamistische Regierung spielt mit dem Feuer und ein ganzes Land verbrennt sich dabei ganz ordentlich die Finger. Die Politik der Ennahda, die aus den ersten freien Wahlen im vergangenen Oktober als stärkste Partei hervorging, ist eine einzige Verzögerungstaktik. Denn Ennahda hat keine Eile neue Wahlken einzuberufen. Sie schneidet bei Umfragen wesentlich schlechter ab, als noch vor ein einhalb Jahren. Außerdem ist das säkulare Lager mittlerweile zusammengerückt und hat große Bündnisse geschmiedet, die den Islamisten am Wahltag mit Aussicht auf Erfolg die Stirn bieten können.
Ennahda setzt deshalb auf kleine Schritte. Und dazu braucht es Zeit. Erfolgreich konnten die Islamisten die Ausarbeitung der neuen Verfassung hinauszögern. Durch geschickte Formulierungen wird die Tür für eine langsame, aber stetige Islamisierung offen gelassen. An der Basis findet diese über Moscheen und Hilfsvereine bereits statt. Selbst mit den radikalen Salafisten versuchte Ennahda gemeinsame Sache zu machen, wie ein dank der Presse bekannt gewordenes Geheimtreffen zwischen Ennahda-Chef Rachid Ghanouchi und der Führungsriege von Ansar al Scharia belegt.
Doch das Spiel ist gefährlich. Dies zeigen die Vorfälle vom Wochenende. Denn die Zeit arbeitet eben auch für die Radikalen. In der politischen und wirtschaftlichen Krise rekrutieren sie erfolgreich Anhänger in den Bevölkerungsschichten für die sich seit der Revolution wenig bis garnichts verändert hat.
Nur wenn Tunesien die politische Krise so schnell wie möglich überwindet, hat das Land eine Chance auch wirtschaftlich wieder zu wachsen. Schlagzeilen, wie die aus Kairouan und Tunis, gemischt mit der Unfähigkeit der politischen Klasse endlich eine Ordnung für die Republik nach Ben Ali auszuarbeiten, bringt weder Touristen noch Investoren zurück ins Land. Gewinnen können dabei nur diejenigen, die eine radikale Islamisierung anstreben, und sei es mit Gewalt. Es ist an der Zeit, dass Ennahda und ihre beiden sozialdemokratischen Regierungspartner sich unmissverständlich auf die Seite eines modernen Tunesiens stellen.