© 2008 Reiner Wandler

Der Tod des spanischen Schlagers

Es ist eine Katastrophe für das spanische Schlagergeschäft und ein Fest für die Internauten. Die Online-Abstimmung für die Auswahl des spanischen Teilnehmers an der Eurovision 2008 in Belgrad wurde von den „Frikis“ (spanisch für Freaks) gesprengt. Das spanische, öffentliche Fernsehen TVE hat eigens zwei Seiten im Internet eingerichtet. Unter www.eurovision-spain.com werden die Bewerber vorgestellt und Neuigkeiten kommentiert. Unter www.myspace.com/eurovision2008 darf jeder sein Lied einstellen und bis zum 25.2. um Mitternacht abstimmen. Spaniens Internauten machten regen Gebrauch. Doch was dabei herauskam, hatte bei TVE so keiner erwartet.


Auf Platz 1 liegt Antonio González genannt „El Gato“. Der 70-jährige Rentner aus Cantillana, einem Dorf unweit dem südspanischen Sevilla, besingt „La Bicicletera“ – „die Radfahrerin“. Zu elektronischer Musik und Rythmen aus einem Kaufhauspiano für Kleinkinder singt er im gequälten Flamenco-Ton unverständliche Liebeserklärungen an seine Angebetete, die im Videoclip von einem jungem Mann mit Perücke auf einem Klapprad verkörpert wird. „An diesem 23. Februar macht MV einen Staatsstreich“, feierten die Mitglieder im Forum für Computerspiele www.media-vida.net als ihr Star am Jahrestag des fehlgeschlagenen Putschversuches gegen die junge spanische Demokratie 1981 Platz 1 eroberte. Media-Vida zeichnet unter dem Namen MV-Team als Produzent für den Videoclip von „El Gato“ verantwortlich.

Auch auf Platz 2 sieht es für die Fernsehmacher nicht viel besser aus. Hier rangiert Rodolfo Chikilicuatre. Mit einer Plastikguitarre bewaffnet macht der Komiker des Privatsenders „La Sexta“ Werbung für seinen neuen Tanz, den ChikiChiki. Erst ab Platz drei dann kommt normale spanische Popmusik. Doch unter die ersten zehn hat es keiner der üblichen Verdächtigen geschafft. Auf die Frage, wie er sich den Erfolg der Frikis erkläre, hat Rodolfo Chikilicuatre eine einfache Antwort: „Das Spektakel ist ein wichtiger Bestandteil der Musik. Deshalb glaube ich, dass das Spektakel sehr wichtig ist, wenn du in diesem Geschäft etwas erreichen willst.“

Freilich sehen dies bei TVE nicht alle so. „Retten wir Eurovision“, heißt das Motto „des größten Casting in der Geschichte des spanischen Fernsehens“. Die Online-Abstimmung sollte dem Publikumsschwund entgegenwirken. Denn in den letzten Jahren rutschten die spanischen Teilnehmer immer weiter nach hinten. Die Zuschauerquote sinkt unaufhaltsam. Jetzt, nach dem Sieg der Frikis, bekommt der Rettungsaufruf eine ganz neue Bedeutung. Im Internet werden Stimmen laut, die „unsere Musik“ gegen die Internetfreaks verteidigen wollen. Doch zu spät. Denn einige „ernstzunehmende“ Schlagersänger haben bereits das Handtuch geschmissen und ihre Kandidatur zurückzogen.

„MV sollte geschlossen werden“ – „So eine Sch….! Denen ist aber auch nichts heilig!“ beschweren sich die wahren Schlagerfans auf der Eurovisionsseite. TVE versucht derweilen die Stimmenflut einzudämmen, in dem immer wieder email-Adressen für nicht gültig erklärt werden. Es hilft alles nichts.

TVE bleibt nur noch eine Hoffnung, um das Schlimmste zu vermeiden. Neben den fünf Erstplatzierten bei der online-Abstimmung werden von einer Jury fünf weitere Teilnehmer für eine Fernsehgala ausgesucht. Dort wählt dann das Publikum per Telefon den endgültigen Vertreter Spaniens. Die Internauten wollen auch dabei ein Wort mitreden. Sie machen in den Foren für den großen Fernsehabend mobil.

Nachtrag: TVE und die Schlagerbranche schlagen zurück: Bei der „genauen Auszählung“ verlor El Gato wie durch ein Wunder 100.000 Stimmen und rutschte von Platz 1 auf Platz 36. Es lebe die Internetdemokratie!

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