© 2012 Reiner Wandler

"In unseren Ländern sind wir nichts weiter als Verräter, Kreaturen des Westens."

Boualem Sansal (62) ist einer der bekannteste, zeitgenössische Schriftsteller aus Algerien. Seine kritischen Romane brachten ihm zu Hause den Ruf des Nestbeschmutzers ein, während er in Europa mehrfach ausgezeichnet wurde. So erhielt er im vergangenen Jahr den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.

Seine Reise zum Dritten Internalen Schriftstellerkongress in Jerusalem (13. bis 17 Mai 2012) stieß auf breite Kritik in der arabischen Welt. Unter anderem erkannten ihm die Botschafter der ababischen Länder in Frankreich einen Literaturpreis des Institutes der Arabischen Welt in Paris wieder ab. Sein neuestes Werk „Rue Darwin“ erscheint im September auf Deutsch. Seine bisher übersetzten Werke: http://www.boualem-sansal.de/Buecher.html
Dieses Mal sind Sie für viele einen Schritt zu weit gegangen. Sie haben das größte Tabu gebrochen, dass ein arabischer Intellektueller brechen kann. Sie sind nach Israel gereist. Warum?
Ganz einfach, weil ich eingeladen worden bin. Das war für mich eine ausserordentliche Gelegenheit. Ich finde es völlig normal, dass sich arabische und israelische Schriftsteller treffen. Sie machen das ständig, nicht in den arabischen Länder und auch nicht in Israel, aber in den USA, in Frankreich in Deutschland … Warum also nicht in Israel? Es muss immer jemand den ersten Schritt tun. Ich hoffe, dass dies weitere Besuche von Arabern in Israel und von Israelis in der arabischen Welt zur Folge hat. Damit können wir vielleicht etwas zum Frieden zwischen Israelis und Palästinensern beitragen.
Das sieht kaum jemand so. Die Reaktionen in der arabischen Welt fielen sehr heftig aus.
Die Kritik kam vor allem von Seiten der Islamisten und von Intellektuellen, die sich stark auf Seite der Palästinenser engagieren. Für diese Leute bin ich ein Verräter, ein Söldner, was weiß ich … Doch wer etwas zum Frieden und zur Begegnung zwischen Völkern und Menschen beitragen will, darf sich nicht mit kleinen häuslichen Problemen der einen oder der anderen Seite aufhalten. Wenn wir immer nur Angst haben und nichts tun, wird alles bleiben wie es ist.
Begegnung, Frieden, das klingt gut. Warum haben Sie nicht auch die Palästinensergebiete besucht?
Ich wurde nicht eingeladen. Ich kenne viele Palästinenser. Ich habe dort Freunde bis hin zu Politikern, die unter Yassir Arafat Minister waren. Sicher habe ich nichts dafür getan, damit ich eingeladen werde. Ich will nicht um eine Einladung bitten. Aber sollte sie kommen, werde ich sie selbstverständlich annehmen.
Haben Sie auch Zustimmung von Seiten arabischer Künstler und Intellektuellen erfahren?
Bis jetzt noch nicht. Es gibt Leute, die mich unter vier Augen oder am Telefon unterstützt haben. Aber niemand hat dies öffentlich in einem Artikel getan. Es wäre schön gewesen, und es wäre vor allem wichtig für die Zukunft der Region, wenn immer mehr Menschen dieses Tabu brechen. Man kann mit den Israelis arbeiten. Die Palästinenser machen das täglich. Die Palästinensische Autorität trifft sich regelmäßig mit der israelischen Regierung. Es gibt Politiker auf beiden Seiten, die sich immer wieder überall auf der Welt treffen, Geschäftsleute, die zusammenarbeiten, Künstler, Musiker, Anwälte, Ärzte … Warum sollen wir Intellektuellen und Schriftsteller das nicht tun? Unser Wort hat Gewicht. Es ist notwendig auszubrechen, um das Problem den Extremisten auf beiden Seiten zu entreißen. Das Problem muss von vernünftigen Menschen angegangen werden. Ich habe nach meiner Rückkehr aus Israel in der Huffington Post einen Artikel veröffentlicht, in dem ich für die Idee eines großen, weltweiten Treffens von palästinensischen und israelischen Schriftstellern für den Frieden in der Region werbe.
Erwartet man nicht von einem Schriftsteller, der aus einem Land kommt, das vor 50 Jahren teuer für die Unabhängigkeit bezahlt hat, dass er sich ganz besonders hinter die Palästinenser stellt?
Ich glaube kaum, dass dies eine Rolle spielt. Aber was schon stimmt, in Algerien ist der Nationalismus sehr stark. Algerien hat beim Konflikt Israel – Palästina immer eine sehr harte Position eingenommen. Algerien war immer gegen Verhandlungen und gehörte zu den fünf arabischen Ländern der sogenannte Front der Standfesten, die sich gegen das Abkommen zwischen Israel und Ägypten, Israel und Jordanien stellten. Algerien trat nie für einen Frieden mit Israel ein, sondern will, dass Israel verschwindet. Gaddafi in Libyen ist tot, Saddam Hussein im Irak auch, im Jemen ist der Präsident weg, Syrien ist im Bürgerkrieg … nur Algerien ist übrig, und verfolgt nach wie vor die 30 Jahre alte Linie. In Algerien sind wir palästinensischer als die Palästinenser. Das ist doch nicht normal.
Viele Palästinenser vergleichen ihren Kampf mit dem der Algerier gegen Frankreich. Fordern sie nicht gerade deshalb von Ihnen mehr Unterstützung ein?
Es gibt da ähnliche Ideen. Im Krieg gegen Frankreich gab es Leute, die nur eines wollten: Krieg bis zum Ende, keine Verhandlungen, keine Gespräche. Aber es gab auch die anderen, die auf Verhandlungen setzten. Sie waren sicher, die die Unabhängigkeit ohne alles zu zerstören, erreichen zu können. Doch alle, die so dachten, wurden von der FLN (Nationalen Befreiungsfront) ermordet. Für die FLN waren es Verräter. In diesem Denkschema bin ich natürlich auch ein Verräter. Weil ich sage, dass man miteinander sprechen muss, um einen Weg zum Frieden zu finden. Nur auf Krieg zu setzen ist ungerecht gegenüber den Palästinenser und den Israelis. Denn sie leiden darunter. Sie leben dort.
Die Hardliner sehen im Kampf der Palästinenser einen antikolonialen Befreiungskampf wie einst in Algerien. Ist es somit nicht logisch, dass die Kolonialmacht abziehen, verschwinden muss?
Man kann zwei völlig unterschiedliche Dinge nicht einfach gleichsetzen. Frankreich kam mit einer Armee und hat Algerien 130 Jahre lang besetzt. Deshalb war der Algerienkrieg ein echter antikolonialer Befreiungskrieg. In Palästina ist das ganz anders. Dort leben zwei Völker, die das gleiche Land beanspruchen. Beide führen ihre Geschichte an, um zu belegen, dass sie die alleinigen Eigentümer sind. Es ist als würden sich zwei Besitzer um das gleiche Haus streiten. Beide legen ihre Papiere vor, der eine die Bibel, der andere den Koran. Dabei wird vergessen, dass Israel per internationalem Gesetz 1948 von der UNO gegründet wurde. Es ist kein Kolonialproblem sondern ein Problem des Eigentums. Wem gehört das Haus? Die Israelis sind nicht 1948 mit einer Armee eingerückt.
Was ist die Lösung? Eine Wohngemeinschaft im gleichen Haus? Zwei Häuser?
Ich glaube die einzige Lösung sind zwei Häuser, in einem Haus zusammen zu leben ist nicht mehr möglich. Die UNO wollte bereits 1948 zwei Häuser, Palästina und Israel. Die Araber lehnten dies ab. Das war der Anfang der heutige Situation. Mit dem Abkommen von Oslo haben auch die Palästinenser in die Lösung zweier Häuser eingewilligt. Die Diskussion geht eigentlich nur noch um technische Fragen – wo verläuft die Grenze und was geschieht mit den israelischen Siedlungen. Die prinzipielle Frage ist geklärt.
Da spielt natürlich ein zweites Problem hinein. Die Islamisten von Hamas hat in Gaza eine Regierung gebildet, die Israel zerstören will. Sie lehnen das Abkommen von Oslo ab. Das ist vor allem ein Problem für die Palästinenser selbst. Wer spricht für die Palästinenser? Mahmud Abbas oder Hamas? Offiziell ist die einzige legitime Autorität in Palästina Mahmud Abbas, die PLO, und nicht Hamas.
In Israel gibt es auch Extremisten, die davon reden, dass Palästina verschwinden muss.
Natürlich. Aber die israelischen Radikalen leben in einem demokratischen Staat mit seinen Gesetzen. Sie demonstrieren, sie machen ihre Propaganda, aber es ist ein kleine Minderheit in einem Rechtsstaat mit seinem Parlament, seiner Regierung. Sie haben keine Chance, umzusetzen, was sie wollen.
Der arabische Frühling hat Regime zum Einsturz gebracht, doch die arabo-muslimische Ideologie und die Haltung gegenüber Israel scheint davon nicht betroffen zu sein, wie die Wahlsiege der Islamisten zeigen. Wie erklären Sie sich das?
Die arabischen Völker habe sehr, sehr lange auf die Demokratie warten müssen. Seit der Unabhängigkeit lebten sie unter nationalistischen Regierungen. Und die wenigen demokratischen Erfahrungen haben wie in Algerien zum Bürgerkrieg geführt. Diese Völker wissen nicht mehr, an was sie glauben sollen. Sie haben gesehen, wie der Westen, der die Demokratie propagiert, die arabischen Diktaturen unterstützt. Wenn die Völker ihren Glauben an die Demokratie verlieren, dann passiert das, was wir in den 1930er Jahren in Europa ganz konkret in Deutschland gesehen haben. Die Extremisten, die Faschisten, haben es dann leicht.
Aber es gab doch eine Reihe von Revolutionen. Warum hat dies nicht zu einer Diskussion, zu einer intellektuellen Öffnung geführt? Warum scheint es so, als wäre es regelrecht verboten, frei zu denken?
Die Unabhängigkeit hat in den meisten arabischen Ländern nicht zu Freiheit und zu einen besseren Leben geführt, wie es sich die Menschen erhofften. Egal ob die Regierenden auf den Kapitalismus oder den Sozialismus setzten, es scheiterte immer daran, das es Diktaturen waren. Die Regime haben dabei alle Ideologien manipuliert oder zerstört. Das ist wie eine Krankheit. Deshalb glauben viele Menschen jetzt, dass der Islamismus die Lösung, ja die einzige Lösung, ist. Das ist gefährlich. Denn hinter dem Islamismus steht eine starke Ideologie und starke Unterstützer. Lange hat man gedacht, der Islamismus wäre eine unbedeutende Irrlehre, die vom Weg der Religion abgekommen ist. Das ist nicht so. Es handelt sich um eine echte faschistische Ideologie, mit einem politischen Projekt und einer Strategie, um sich die Welt untertan zu machen. Erst waren die Islamisten Individuen, dann haben sie Gemeinden und Regionen kontrolliert. Jetzt lenken sie ganze Staaten mit ihrer Verwaltung ihren Armee … in Marokko, Ägypten, Tunesien, auf gewisse Art auch in Algerien.
Wo bleibt da für Intellektuelle noch Platz?
In den arabischen Ländern hat der Intellektuelle keinen Platz. Es gibt nur die Macht und das Volk. Der Intellektuelle und sein Einfluss ist ein Produkt des Okzidents des 18. Jahrhunderts, der Aufklärung. In unseren Ländern sind wir nichts weiter als Verräter, Kreaturen des Westens. Unsere Jahrhundert der Aufklärung steht noch aus. Was mir Sorge bereitet: Die Stimme der arabischen Intellektuellen ist nie zu hören. Egal bei welchem Problem auf dieser Welt mischen sich die westlichen Intellektuellen ein, halten Kongresse ab, schreiben Manifeste. Die arabischen Intellektuellen schweigen. Wir müssen uns befreien, von der Macht, der Religion, von der arabo-muslimischen Kultur, die einen Araber dazu zwingt, wie ein Araber zu denken. Ein Araber kann wie ein Mensch denken und nicht nur wie ein Araber.

Was bisher geschah: