Es gibt Straßen, die haben etwas ganz besonderes. Die Gran Vía in Madrid ist so eine. Nein, es geht nicht nur um die Architektur. Es geht um etwas Tieferes. Die Besucher betreten die Gran Vía als Personen, um sofort zu Charakteren, zu Figuren, wie aus einem Film zu werden.
Das gilt für den Eisverkäufer dort drüben, der aussieht, als wäre er in den 1930ern schon hier gestanden. Das gilt selbstverständlich für den schrillen Travestie, der sein Schoßhündchen spazieren trägt. Und natürlich auch für die Schuhputzer, Persönlichkeiten wie aus anderen Zeiten.
Am bekanntesten sind die Hardrocker Emilio und José. Verwegen gekleidet stehen die beiden Brüder Abend für Abend vor dem Eingang jenes Gebäudes, in dem einst während des spanischen Bürgerkrieges der Schriftsteller Ernest Hemingway Unterschlupf fand. Sie kennen jeden auf ihrer Gran Vía, vom Strauchdieb über den Zuhälter, bis hin zum Geschäftsmann, der hin und wieder auf einer Reise hier im Herzen der Hauptstadt absteigt. Als Geschichtsbegeisterte, die die beiden sind, verweisen sie gerne auf die Spuren, die der spanische Bürgerkrieg hinterlassen hat. So sind im letzten Abendlicht auf der Fassade der Telefongesellschaft Telefónica noch immer die Symbole der spanischen Faschisten zu erahnen und es zeichnen sich Flecken ab – Einschussstellen aus der Zeit, als die Gran Vía von den Madrilenen „Avenue der Mörsergranaten“ genannt wurde.
Und dann wäre da natürlich noch der junge Fotograf, der ausgerüstet mit einer analogen Leica seit Jahren all diesen Figuren nachstellt. Wie kein Zweiter versteht er es, die Verwandlung der Menschen auf der Gran Vía, das Zeitlose an ihnen, auf Film zu bannen und ist dabei selbst längst schon zu einer Charaktere der Gran Vía geworden.
Ich mag sie diese Gran Vía. Für mich ist sie die amerikanischste Straße Europas. Wenn ich den Blues bekomme in Madrid, diesem Dorf in der Mancha, wie Filmemacher Pedro Almodóvar, der übrigens an der Gran Vía wohnt, die spanische Hauptstadt gerne nennt, dann komme ich hierher. Es ist zwar nicht die große Weite New Yorks, aber ein Besuch hier hilft, die kastillische Enge zu vergessen.
Die Gran Vía wurde als Pracht-Avenue vor mehr als einhundert Jahre durch das Dickicht der Altstadtgassen geschlagen. Es entstanden Gebäude, die ein vielfaches höher sind als der Rest der Innenstadt. In ihrem Stil – eine Mischung aus Neoklassik und machtvollen Fantasien – erinnert die Gran Vía an Manhattan. Genau das macht sie so einzigartig auf dem alten Kontinent. Sicher gibt es auch in London, Paris oder Berlin Gebäude, die us-amerikanisch anmuten. Aber einen ganzen Straßenzug hat eben nur Madrid. Eines der Wahrzeichen der Gran Vía, der Sitz der spanischen Telefongesellschaft Telefónica, war lange das höchste zivile Gebäude diesseits des Atlantiks.
Hier werden – wie auf dem Broadway – Musicals uraufgeführt und Filme dem großen Publikum vorgestellt. Die Kino- und Theaterplakate werden noch handgemalt und echte Neon-Reklame beleuchtet die Szene. Und natürlich findet sich im Schatten dieser Glitzerwelt, fast wie in einer richtigen Großstadt, die Welt der schummrigen Clubs, des Rock’n’Roll und allem was halb bis illegal ist. Doch bleiben wir auf der Prunkseite der Fassaden.
Che Guevara spazierte hier entlang und die drei vom Mond, so mancher Hollywood-Star oder jüngst Evo Morales. Doch die Gran Vía wäre nicht die Gran Vía wäre sie nicht zugleich eine durch und durch spanische Straße. Viele Anekdoten werden erzählt. Die Schönste ist sicher die eines Stiers, der am 22. Januar 1928 die gemächliche Madrider Oberschicht bei ihrem Spaziergang auf der Prunkmeile in Angst und Schrecken versetzte.
Das kraftvolle Tier wurde zusammen mit einer Herde von Kühen aus einem Vorort in die Stadt getrieben. Das Ziel war der Schlachthof. Der Stier schien dies zu ahnen und büchste aus. „Gefolgt von seiner treuen Begleiterin, einer Kuh“, so Spaniens älteste Tageszeitung, die ABC, vom Tag danach, erreichte der Stier die Gran Vía. Schließlich drangen die beiden Tiere in einen Markt ein und „probierten einige Bananen, Kohl und anderes Gemüse“.
Den Weg der beiden säumten schnell mehrere, zum Teil recht schwer Verletzte. Sicher wären noch mehr tragische Zwischenfälle zu verzeichnen gewesen, wäre nicht der bekannte Stierkämpfer Diego Mazquiarán „Fortuna“ des Weges gekommen. Unter großem Beifall der „Señoritas“ aus den Modegeschäften links und rechts der Gran Vía bezwang er den Stier.
„Fortuna ging den klassischen Normen entsprechend vor. Nach einem Kampf mit dem Mantel in der Hand tötete er den Stier mit einem ziemlich ordentlichen Degenstoß. Der Applaus war ohrenbetäubend! (…) Mehrere Männer trugen den Torero auf ihren Schultern bis zu einer Cafetería“ beschrieb die ABC die Szene, als handle es sich um eine Chronik aus der hauptstädtischen Arena Las Ventas.